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Wo Träume im Wind verwehen

Wo Träume im Wind verwehen

Titel: Wo Träume im Wind verwehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luanne Rice
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die sie Joe geschrieben hatte. Mindestens einer enthielt eine Schilderung der gnadenlosen Einzelheiten, spiegelte die Schrecken der Jagd. Und nun, nach all den Jahren, hatte sie die Wahrheit geschönt. Sie wünschte, sie hätte ihm nie etwas davon erzählt. Schließlich hatte ihr Vater mit dem Überlebenstraining begonnen, weil Joes Vater die Familie bedroht hatte. Sie setzte sich kerzengerade auf.
    »Du warst ungeheuer wütend, als er Skye zum ersten Mal mitnahm. Sie sei noch nicht so weit gewesen, hieß es in deinem Brief. Sie habe nicht schießen wollen. Ist sie diejenige mit dem Alkoholproblem?«
    »Warum fragst du?« Carolines Herz klopfte zum Zerspringen.
    »Weil sie ihr Auto zu Schrott gefahren hat«, antwortete Joe.
    Caroline nippte an ihrem Kaffee, aber er war inzwischen kalt geworden. Sie stellte ihre Tasse auf den Tisch zurück und blickte Joe direkt in die Augen.
    »Warum bin ich hier?«
    »Ich möchte mich bei dir bedanken. Für das Tagebuch und dass du mich überhaupt auf das Wrack aufmerksam gemacht hast. Dir habe ich den Fund der
Cambria
zu verdanken …«
    »Aber warum hast du mich auf die
Meteor
eingeladen?«, hakte Caroline nach. Ihr Herz klopfte immer noch wie verrückt. Ihr Mund war trocken. Sie saß mit Joe Connor zusammen, nach all den Jahren des heimlichen Grolls, und wusste nicht, was sie davon halten sollte.
    »Um mit dir über den besagten Abend zu reden«, antwortete Joe mit leiser, entschlossener Stimme.
    »Den Abend, an dem dein Vater starb.«
    »Als deine Schwester anrief und diese Nachricht für mich hinterließ, dachte ich, dass sie mir vielleicht etwas über den Hergang erzählen wollte. Etwas Neues.«
    »Sie spürt, dass uns etwas verbindet«, entgegnete Caroline. »Wir alle tun das.«
    »Weil ihr dabei wart.«
    »Ich kann mich kaum daran erinnern.« Nach all den Jahren legte sie keinen Wert darauf, diejenige zu sein, die ihm die Augen öffnete.
    »Erzähl mir, was du weißt.«
    Caroline versuchte den Anschein von Gelassenheit zu wahren. »Okay, ich werde es tun, wenn du mir auch etwas erzählst.«
    »Und das wäre?«
    »Warum hast du mich plötzlich gehasst?«
    Er hielt ihrem Blick stand, und seine Stimme klang beherrscht. »Bis zu meinem siebzehnten Lebensjahr hat man mich in dem Glauben gelassen, mein Vater sei an einem Herzanfall gestorben. Ich wusste, dass es in deinem Elternhaus passiert ist, aber ich dachte, er hätte deinen Vater auf dem Pier kennen gelernt, sich mit ihm angefreundet und sich eine Pause vom Fischen gegönnt, um ihn zu Hause zu besuchen. Ich fand den Gedanken tröstlich, dass er bei Freunden war, als er starb, in Gegenwart von Menschen, denen sein Schicksal nicht gleichgültig war.«
    »Ich war damals noch ein Kind, Joe, genau wie du. Dir die Wahrheit zu sagen wäre zu viel verlangt gewesen, die Verantwortung hätte ich nicht übernehmen können.«
    »Dann sag sie mir jetzt. Bitte.«
    Caroline war durchaus in der Lage, binnen Sekunden die Erinnerung an den verhängnisvollen Abend heraufzubeschwören. Sie schloss die Augen, sah die Küche auf Firefly Hill, roch die Weihnachtsplätzchen im Ofen und hatte James Connors Augen wieder vor sich.
    »Er war verzweifelt. Daran erinnere ich mich am deutlichsten. Unendlich verzweifelt, weil er deine Mutter so sehr liebte. Man hätte meinen können, er habe den Verstand verloren.«
    »Hat er das gesagt?«
    Caroline nickte. Durch seine Fragen fühlte sie sich wieder an den Schauplatz des Geschehens zurückversetzt. Sie sah die Waffe in seiner zitternden Hand, die Mehlspuren der Finger auf dem gewölbten Leib ihrer hochschwangeren Mutter. Die Todesangst in Cleas Augen.
    »Er weinte. Ich hatte vorher noch nie einen Erwachsenen weinen sehen. Er sagte meiner Mutter, dass mein Vater sie nicht mehr liebe, weil ihm deine Mutter mehr bedeute. Er war völlig durcheinander.«
    »Und dann erschoss er sich?«
    »Er wollte
uns
erschießen.« Caroline merkte an Joes Gesichtsausdruck, dass ihm dieser Teil der Geschichte unbekannt war. Er sah bestürzt aus.
    »Dich und deine Mutter?«
    »Und Clea und Skye. Obwohl Skye zu dem Zeitpunkt noch nicht geboren war. Sie kam Weihnachten zur Welt, zwei Tage später, also rechne ich sie mit dazu.«
    »Aber warum?«
    Caroline blickte ihn an. Seine blauen Augen waren umwölkt in banger Vorahnung, sein voller Mund verzerrt. Er fürchtet sich vor der Wahrheit, dachte sie. Plötzlich sah sie wieder den Sechsjährigen auf dem Foto in der Hand seines Vaters vor sich, über das ganze Gesicht

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