Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York
welchen Tricks diese Bilder entstanden waren, ich weiß nur, dass wir am 22. September 1999 im Erdgeschoss eines Brownstonehauses in der 2 nd Street, Ecke 5 th Avenue standen und ich dachte, dass ich lieber wieder in mein winziges Lichtenberger Kinderzimmer ziehen würde als in dieses Loch in Brooklyn. Es war mein 32. Geburtstag, und das war kein Geschenk. Die Wohnung war dunkel und kalt, ein Schlafzimmer befand sich im Keller, und der Garten war so groß wie unser Balkon in Berlin, nur nicht so sonnig, denn er war von hohen Mietshäusern umringt, aus deren Fenstern laute Musik pumpte und Männer gelangweilt auf uns herunterschauten, denen ich nachts ungern auf der Straße begegnet wäre.
Das Problem war, dass wir bereits zwei Monatsmieten als Kaution bezahlt hatten, weil der Büchersammler uns versichert hatte, die Wohnung sei sonst weg. Das behauptete auch die Maklerin, eine Freundin des Büchersammlers. Sie hatte uns vom Flughafen in Newark abgeholt und mir eine Rose mitgebracht, zum Geburtstag. Wir dachten, es handle sich um einen Freundschaftsdienst. In Wirklichkeit wollte sie zwei ahnungslosen, völlig übermüdeten Deutschen ein paar Kellerräume andrehen. Den Vertrag hatte sie dabei. Die Vermieterin wartete in einem Restaurant in Manhattan auf uns. Da sollten wir unterschreiben, gleich jetzt.
Ich schaute Alex flehend an.
»Wir sollten morgen früh nochmal wiederkommen, wenn es hell ist«, sagte er traurig. Er wollte so gerne nach New York. Amerika war das Land seiner Helden.
»Klar«, sagte ich. »Wir kommen morgen früh nochmal wieder.«
Am nächsten Morgen war dann zum Glück auch Alex überzeugt, dass wir hier niemals wohnen konnten. Nicht mit zwei kleinen Kindern. Wir schrieben die Kaution ab und suchten weiter. Am letzten Tag vor unserer Abreise nach Berlin zeigte uns Tony, einer der Makler, die in der 7 th Avenue in Ladenbüros hinter winzigen Schreibtischen saßen, ein Haus in der Carroll Street. Es lag im Einzugsbezirk der P.S. 321, einer guten Grundschule, nur zwei Blocks vom Prospect Park entfernt, es war groß und hell, und nach hinten hatte es einen verwilderten Garten mit einem Maulbeerbaum und einer Schaukel für die Kinder. Wir sagten sofort zu, und dann liefen wir durch die Septembersonne in den Park, setzten uns auf eine Bank, sahen Familien beim Ballspielen und Picknicken auf der Wiese zu, lehnten uns aneinander, und ich fühlte mich ruhig und sicher, dass uns dieses neue Leben hier schon gelingen würde. Zwei Jahre ist das her, fast auf den Tag genau.
Ich liege still in meinem Bett und hoffe, dass der Schlaf zurückkommt, aber es sieht nicht so aus.
Heute ist Dienstag, denke ich.
Dienstag kommt die Straßenreinigung.
Weiß Alex, dass er das Auto umparken muss?
Wo steht das Auto?
Wo ist der Autoschlüssel?
Wird er daran denken, die Mülltonnen rauszustellen?
Alex ist dran, so heißt das bei uns. Er weckt die Kinder, er macht Frühstück, er bringt Ferdinand zur Schule. Und zwischendurch parkt er das Auto um und stellt die Mülltonnen raus. Wir sind beide Nachtmenschen, wir gehen spät ins Bett und schlafen morgens gerne länger, und irgendwann in unserer Beziehung haben wir uns darauf geeinigt, uns mit dem Aufstehen abzuwechseln. Das klingt gut, klappt aber fast nie, weil Alex ständig unterwegs ist oder nachts schreiben oder sich von der Nachtschicht erholen muss. Dieser Morgen ist also eine Ausnahme, eine Chance für mich, und die will ich nutzen.
Über die Mülltonnen haben wir gestern Abend gesprochen, über das Auto auch. Ich dämmere gerade wieder weg, aber da taucht der nächste Gedanke auf. Er hat nichts mit Mülltonnen und Parken zu tun, sondern mit mir. Ich kann ihn trotzdem nicht gebrauchen, nicht jetzt, nicht so früh am Morgen. Aber er ist da.
In zwei Tagen wird mein erster Text in der Zeit erscheinen. Er handelt von Dave Eggers, einem jungen amerikanischen Schriftsteller, der hier in unserem Viertel gewohnt und ein wunderbares Buch geschrieben hat. Ich habe ihn in Philadelphia besucht, wo er eine Lesung hatte. Wir haben uns unterhalten, nach der Lesung waren wir auf einer Party. Er hat mich seiner Kollegin Zadie Smith vorgestellt. »Das ist Anja, sie ist aus Berlin und lebt in Brooklyn«, hat er gesagt. Ich fand, dass das gut klang, und ich fühlte mich gut, anders als sonst, freier. An diesem Abend war ich nicht die deutsche Mutter, die Frau des Korrespondenten – ich war eine junge Europäerin, eine Schreiberin, die in Brooklyn wohnte wie Eggers. Wir
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