Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach
leben und die Erzählung fortzusetzen, würde mich Höllenqual erleiden lassen. Dieses Böse konnte ich nicht ertragen. Dieses Mal nicht. Ich mußte mich vom Rand des Abgrunds entfernen. Ich durfte das Zutrauen zu meinem Leben und zu dem ›Spiel‹ nicht verlieren. Indem ich mich noch einmal davon überzeugte, daß das, was wir erlebten und fühlten, uns nicht richtete, sondern zu uns selbst machte … Erbauten wir unsere Leben nicht sowieso mitsamt unseren Fehlern? … Außerdem mußten wir keinesfalls Fehlerlosigkeit anstreben. Vielmehr war es gut, daß wir Fehler hatten. Gut, daß wir Nöte und Schwächen hatten. Wie hätten wir sonst an unsere Unterschiedlichkeit glauben können? … So lernten wir eben, was wir zu lernen hatten. Indem wir von Tag zu Tag schmerzlich einsahen, daß unsere für andere Augen manchmal unerträglich scheinenden Fehler in Wirklichkeit unsere Unverwechselbarkeit ausmachten … Mit all unseren Verlusten, unserem Bedauern darüber, daß wir uns vor unseren Beziehungen gedrückt, sie nur äußerlich tangiert hatten, was uns nun aber lebendiger machte, näher am Leben hielt und kreativer machte …
Am Morgen nach jener Nacht versuchte ich mich von dieser Warte aus zu sehen. Ich war in meinem Geschäft. Was ich suchte, aufs neue zu finden versuchte, zeigte mir nicht nur meine Freunde, die ich einst irgendwo verlassen hatte, sondern auch einige Bilder meiner Geschichte und Vergangenheit. Was ich sehen würde, konnte mich noch mehr verletzen. Doch ich würde weitermachen, ich würde so weit gehen, wie es meine Kraft, meine Grenzen, meine Zeit erlaubten. Zudem konnte ich sagen, daß, wenn ich unter einem anderen Gesichtspunkt auf den Verlauf der Ereignisse blickte, meine Chancen günstig waren. Ich war am Morgen früh aufgestanden und, um den Text des ›Spiels‹ zu suchen, in den Raum gegangen, in den wir alle möglichen Dinge abgelegt, vielmehr hineingestopft hatten. Ein Handgriff führte mich zu jenen ›verbotenen‹ Zeitschriften, die ich einst mit großer Erregung gekauft, mit großer Angst versteckt und dann, weil sie im Laufe der Zeit ihre ›Gefährlichkeit‹, ihre Attraktion, ihren Anreiz verloren hatten, in eine Ecke geworfen hatte, wobei ich es irgendwie nicht über mich gebracht hatte, sie wegzuwerfen. Jedesmal, wenn in den letzten Jahren mein Blick jene Zeitschriften gestreift hatte, war ich melancholisch geworden. Sie waren inzwischen in einem Zustand, in dem sie nur sehr wenige Menschen interessierten. Dabei war ihre Existenz, ihr Vorhandensein, einst der Grund für große Leiden gewesen … Doch es war keine Zeit, sich diesem Gefühl zu überlassen. Der gesuchte Text befand sich in dem staubigen Regal zwischen jenen Zeitschriften. Daß ich ihn dorthin getan hatte, war natürlich sehr bedeutungsvoll. Aber bedeutungsvoller war, daß ich ihn fand. Ich freute mich sozusagen an der Eigenart dieser Erzählung, die mich viele Punkte leicht erreichen ließ. Ich hielt noch ein paar Seiten meiner Geschichte mehr in der Hand. Ich nahm das Heft mit all dem Staub, der sich darauf angesammelt hatte, mit zu meinem Arbeitsplatz. Nachdem ich mir jene Fragen gestellt und kurz die Schlagzeilen der Zeitung überflogen hatte, auf die ich einst nicht nur wegen ihrer politischen Haltung, sondern auch weil sie in mein Elternhaus kam, wütend gewesen war, von der ich hatte Abstand halten wollen, an die ich mich aber inzwischen gewöhnt hatte, las ich beim Kaffee das Heft von vorn bis hinten durch. Ich folgte der Spur einer alten Begeisterung … Einerseits lachend, andererseits ab und zu aufgeregt … So war das ›Spiel‹ nämlich. Man würde einige Veränderungen vornehmen müssen, wie ich schon zu Necmi gesagt hatte. Jahre waren vergangen, die Bedingungen hatten sich verändert, wir hatten uns verändert. Einige von uns sogar sehr, so sehr, wie wir es gar nicht gewollt hatten … Stellenweise machte ich Randbemerkungen, strich einzelne Partien an, die wir ändern sollten. Mehr konnte ich nicht tun. Zuerst mußte die ›Truppe‹ zusammenkommen. Wir hatten den Text gemeinsam geschrieben. Wir würden auch die Änderungen mit den Spuren unserer Veränderungen gemeinsam erarbeiten …
Ich würde wieder zu Şebnem gehen, nachdem ich ein paar Tage Abstand gelassen hatte … Es mußten auch andere Schritte unternommen werden. Ich nahm die Telefonnummer von Yorgos aus meinem Portemonnaie und legte sie auf den Tisch. Es war an der Zeit, ihn anzurufen. Ich war wieder aufgeregt. Was würde ich sagen,
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