Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach
merken ließen … Doch tatsächlich war mir unsere heimliche Unterhaltung nicht unangenehm. Hätte ich gewollt, dann hätte ich das Erlebte auch anders deuten können, doch ich ließ es sein, denn ich wollte mich nicht länger mit dieser Situation befassen. Çela, die in dem Moment aufstand, lenkte meine Aufmerksamkeit sowieso in eine andere Richtung. Sie sagte, ein Mokka täte nach so einem Essen gut, aber vorher müßten wir als mündige, linke, aufgeklärte und für Gleichberechtigung eintretende Männer gemeinsam den Tisch abräumen. Es war der richtige Moment. Diese Provokation konnten wir nicht auf uns sitzen lassen und taten, was sie gesagt hatte. In der Küche meinte sie, wir sollten alles, was wir herausgetragen hatten, so stehenlassen. Wieder befolgten wir widerspruchslos ihre Anweisung. Anscheinend akzeptierte auch Necmi sie in ihrer Rolle als Hausherrin. Während der Mokka gekocht wurde, blieben wir in der Küche. Da sagte Çela, die Küche sei einer der wertvollsten Teile eines Hauses. Die Worte enthielten eine Botschaft. Eine Botschaft, die ich sehr wohl erkennen konnte … Denn ich wußte, Çela ließ nur ihr Nahestehende in ihre Küche. Wir hatten einen weiteren Schritt aufeinander zu getan … Danach gingen wir mit unseren Mokkatassen in den Salon und besprachen, was wir für Şebnem tun konnten. Musik war eine gute Idee. Doch wir mußten auch andere Mittel suchen. Da platzte Çela heraus, begeistert von ihrem Einfall:
»Lest ihr Teile aus dem Stück vor, lest ihre Rolle, erinnert sie an Szenen, wenn nötig, spielt ihr einzelne Szenen vor, was weiß ich, macht irgendwas … Erzählt ihr, daß ihr das Stück wiederaufführen wollt. Daß ihr auf sie wartet, daß das Spiel ohne sie nicht stattfinden kann …«
Çela beteiligte sich nun ebenfalls an dem Bemühen, Şebnem ins Leben, in unser Leben zurückzubringen. Wir würden diese Begeisterung teilen. Wie war die Nacht doch bunt geworden! Und was für einen Tag hatte ich erlebt! … Ich hätte mir an dem Tag, als ich erstmals daran dachte, das Stück wieder zur Aufführung zu bringen, nicht mal träumen lassen, welches Auf und Ab ich durchmachen würde. Was ich sah, ließ mich daran denken, was und wer mir noch begegnen würde. Es war, als befände ich mich jetzt auf einem Weg ohne Rückkehr. Auf einem Weg ohne Rückkehr, der mein Leben zu unerwarteten Möglichkeiten lenken konnte, zusammen mit den zwei Menschen, die mir ohne Zweifel Kraft geben würden …
In den verbleibenden Stunden der Nacht wendeten wir uns anderen Zeiten zu. Necmi erzählte von seinen Abenteuern als Fremdenführer. Wie er manchmal Märchen und Sagen erfand, um die Orte, an die er die Leute führte, interessanter zu machen, was er aus den Läden der Andenkenhändler, die es als Kunst ansahen, die Touristen zu betrügen, im Handumdrehen gestohlen hatte und natürlich Geschichten über seine Techtelmechtel … Wir lachten viel. Doch seine Erzählungen waren zugleich sehr traurig für mich. Das hing nicht mit seinem ausgeübten Beruf zusammen, auch nicht damit, daß ich einst geglaubt hatte, er würde einmal ein hohes Staatsamt bekleiden. Was mich eigentlich traurig machte, war nicht so sehr die erneute Erinnerung daran, daß Necmi jenen Weg wegen der Vorkommnisse der Vergangenheit hatte abbrechen müssen, sondern daß er anscheinend keinerlei Werte mehr ernst nahm. Vielleicht war dem nicht so. Doch er tat wirklich alles, um diesen Eindruck zu erwecken. Protestierte er auf diese Weise gegen Dinge, mit denen er sich nicht auseinandersetzen wollte oder die er nicht benennen wollte? … Vielleicht konnte er das Leben auch nicht mehr so ernst nehmen nach dem, was er erlebt hatte, nach all den Toden und Morden, die er wie eine Last mit sich herumschleppen mußte. Vielleicht war das Nichternstnehmen ja das eigentliche Ernstnehmen … Dieses Gespräch dauerte bis in die späte Nacht. Er wollte erzählen, erzählen, erzählen und wollte, daß man ihm zuhörte. Dann stand er plötzlich auf, mit einer Unruhe, die uns beide erstaunte, und sagte, es sei jetzt Zeit für ihn zu gehen. Ohne ersichtlichen Grund war er ganz plötzlich melancholisch, richtig deprimiert geworden. Er war wieder einmal auf eine andere Seite hinübergewechselt. Ich versuchte, diesen Wechsel zu verstehen, der mich erschütterte, ja sogar ein wenig befremdete, und sagte, ich könne ihn nach Hause fahren. Ich machte mir gewissermaßen Sorgen wie ein älterer Bruder. Als wäre er nicht einer, dem es gelungen war, sich
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