Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach
wenn er gleich am Apparat war? … Ich nahm meinen Mut zusammen, wählte und wartete. Jeder Klingelton bedeutete ein Anklopfen an der Tür einer Zeit, die neu erbaut werden mußte. Binnen kurzem wurde das Telefon mit einer griechischen Grußformel abgenommen. Eine Frau war am Apparat. Ich fragte, ob Yorgos zu Hause sei, und zwar in Englisch, um eine Brücke zu bauen. Indem ich mich unwillkürlich daran erinnerte, daß diese Sprache fast überall auf der Welt auch mit wenigen Worten manche Brücken zu bauen half … Wie erwartet kam die Antwort spontan in den Worten dieser einfachen Brücke. Er sei nicht zu Hause, sei zur Arbeit gegangen, würde am Abend zurückkehren. Ich glaubte eine Erklärung abgeben zu müssen. Ich sagte meinen Namen, daß ich aus Istanbul anrufe und ein Klassenkamerad von Yorgos aus dem Gymnasium sei, und fragte, wann ich wieder anrufen könne, um ihn persönlich zu sprechen. Die Stimme der Frau klang ein wenig distanziert. Ich könne abends nach neun anrufen, Yorgos ginge nicht früh schlafen, ich könne auch spät telefonieren. Die Informationen waren ziemlich förmlich und erklärend. Ich sagte im gleichen Stil, daß ich das tun würde, und beendete das Gespräch. Ich schaute auf die Uhr. Es war fast Mittag. Wir lebten zumindest in derselben Zeitzone. Auch wenn wir uns nun ein anderes Leben und Gefühlsklima in verschiedenen Ländern aufgebaut hatten … Ich versuchte mir Yorgos nach diesem Telefongespräch besser vorzustellen. Auch wenn unsere gemeinsame Zeit noch so lange zurücklag …
Ich erinnerte mich nach all den Jahren an einen schweigsamen Jungen, der wenig lachte und völlig unerwartet aufbrausen, aggressiv werden konnte. Es schien, als wollte er sich mehr durch das, was er tat, ausdrücken. Indem er Gedichte schrieb, gut Fußball und Billard spielte … Mehr konnten wir von ihm nicht erwarten. Denn er hatte eine ganz andere Kindheit als wir erlebt, gezwungenermaßen. Das Leben konnte manch einen Menschen sehr früh durch sehr brutale Erfahrungen prüfen. Es war unvermeidlich, daß er aus diesen Prüfungen als verletzter, beschädigter Mensch hervorging. Mit der Zeit akzeptierten wir alle diese Wahrheit. Zweifellos machten uns schwierige Prüfungen stärker und bereiter gegenüber dem Leben. Aber wenn der zu zahlende Preis hoch, sogar sehr hoch ist und sich auf eine Ungerechtigkeit gründet … Noch im Kindesalter hatte er seine Eltern verloren. Er wohnte im Waisenhaus des La Paix-Krankenhauses. Bis wir ihn kennenlernten, war uns dieses Krankenhaus als ›Irrenhaus‹ bekannt gewesen. Weil er das wußte, machte er sich manchmal über sich, uns und sein Schicksal lustig, indem er sagte: »Ich wohne ja im Irrenhaus, deswegen seht euch vor …« Das war freilich eine andere Art, sein Leben zu ertragen. Erst mit der Zeit gewöhnten wir uns auch an diese Tatsache. Es blieb uns nichts anderes übrig … Dort war eben sein Zuhause. Zweifellos hätte er seinen Platz unter uns nicht einnehmen können, wenn er nicht dort gewohnt hätte. Sein Französisch war besser als das der meisten von uns. Mit der Zeit sollten wir auch dafür den Grund erfahren. Daß er in La Paix wohnte, war nicht der einzige Grund. Andererseits waren aber seine übrigen Leistungen nicht besonders gut. Er machte den Eindruck, als nähme er die Schule nicht allzu ernst. Doch im Literaturunterricht war er sehr erfolgreich, so als hüllte er sich in eine ganz andere Atmosphäre ein. An seinem Erfolg hatte Eşref Bey sicherlich großen Anteil. Auch er war von dem stillen, manchmal äußerst aggressiven, dickköpfigen Jungen, der mit den disziplinarischen Regeln des Gymnasiums nahe Bekanntschaft machte, beeindruckt. Denn er schrieb sehr gute Gedichte. Ihre Beziehung glich wie die zu Necmi weniger einer Lehrer-Schüler-Beziehung, sondern der eines Vaters zu seinem Sohn. Doch auch diese Beziehung konnte nicht verhindern, daß er eines Tages im Disziplinarausschuß landete. Eşref Bey begnügte sich bei diesem Vorfall nicht wie sonst mit einem einfachen Tadel. Der Grund war jedoch einerseits lachhaft, andererseits, wenn man genau hinsah, sehr bitter. Wir lasen von Necip Fazıl Kısakürek Kaldırımlar (Die Bürgersteige). Durch einen unerwarteten Ausbruch zog Yorgos die Aufmerksamkeit aller auf sich, als er mit reichlich lauter Stimme ehrlich aufgebracht sagte: »Warum lassen Sie uns diesen Faschisten lesen?« In der Klasse erhob sich Gemurmel. Zaghaft, überrascht, wie bei der Ankündigung einer Gefahr. Eşref Bey wußte
Weitere Kostenlose Bücher