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Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Titel: Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Levi
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tiefe Bruch in seiner Kindheit und vielleicht seines gesamten Lebens erfolgte, als der Erlaß von 1964 bekanntgegeben wurde. Yorgos war damals in den Personalausweis seiner Mutter eingetragen, die griechischstämmig war. Der Grund dafür war, daß sein aus Makedonien stammender Vater ›heimatlos‹ war oder deutlicher gesagt ›staatenlos‹. Jahrelang hatten sie in Istanbul so gelebt. Hier herrscht ein wenig Unklarheit, aber aus dem, was erzählt wurde und was er uns mitteilte, konnte man nur diesen Schluß ziehen. Sein Vater hatte im Zweiten Weltkrieg bei den Partisanen gegen die Deutschen gekämpft, doch als später die Kommunisten die Macht ergriffen, hatte er sich, obwohl selbst Kommunist, aus persönlichen Gründen, die er nie erklärte und die wir deshalb auch nicht erfuhren, mit der Regierung überworfen. Er hatte unter Lebensgefahr sein Land verlassen müssen, war nach Griechenland gegangen, hatte dort mit den Kommunisten und an der Seite von Yorgos' Mutter, einer Frau von ebenfalls kämpferischem Geist, am Bürgerkrieg teilgenommen, und sie hatten geheiratet. Nach der Niederlage mußten sie auch von dort fliehen und begaben sich schließlich in der Hoffnung auf ein neues Leben nach Istanbul. Die Verwandten der Mutter nahmen sie eine Weile bei sich auf. Sein Vater hatte eine Berufsausbildung. Er war ein guter Automechaniker. Binnen kurzem hatten sie sich in dem neuen Leben zurechtgefunden. Er eröffnete eine Autowerkstatt, lernte langsam Türkisch und gewann sowohl Kunden als auch einen kleinen Freundeskreis. Die ersten Jahre von Yorgos' Kindheit vergingen in diesem Umfeld, wobei er einerseits in der griechischen Schule die ›vorgeschriebene‹ Ausbildung erhielt, andererseits von seiner Mutter Französisch lernte und die Bruchstücke dieser Geschichten erfuhr. Manchmal besuchte er auch seinen Vater in der Werkstatt. Er mußte sich auf eine andere Seite des Lebens vorbereiten … Keiner wußte ja, was die Zeit bringen würde …
    Der Erlaß, der viele echte Istanbuler mit nichttürkischen Wurzeln plötzlich zu Fremden machte, sollte auch sie betreffen. Sie mußten ihre Wohnung und ihr gesamtes Leben in dieser Stadt aufgeben. So begann ihr abenteuerlicher Weg. Seine Eltern wollten nicht nach Athen gehen, also zurückkehren. Sie wußten, was sie dort erwartete. Auch wußten sie, was sie von dem Land, das sie hatten verlassen müssen, nicht erwarten konnten … Es waren Tage des Verstecks und der Flucht. Noch einmal Tage des Verstecks und der Flucht … Sein Vater hatte einen Bekannten, einen guten Freund, der ebenfalls von ›jenseits des Wassers‹ stammte und Polizeikommissar war. Mit seiner Hilfe nahmen sie ihre tragbare Habe und versteckten sich in einem Dorf bei Bursa. Das ging für eine Weile gut. Doch es waren in jeder Hinsicht unsichere Zeiten. Deswegen konnten sie nur ein paar Monate in jenem Dorf bleiben. Auf eine Warnung des Kommissars flohen sie plötzlich wieder woandershin. Dies wiederholte sich mehrfach mit anderen Bildern, doch mit derselben Angst und Flucht. Es war sehr schwer, durchzuhalten, zu überleben. Yorgos' Mutter war die erste, die das Elend der Flucht nicht mehr ertrug.
    »Man sagt ja, jemand sei vor Kummer gestorben, und genau so erging es meiner Mutter, sie starb vor lauter Kummer …«, sagte Yorgos, als er diesen Teil der Geschichte erzählte. Es war an einem Morgen im Juni … Die Frau sagte auf dem Sterbebett zu ihrem kleinen Sohn, der schon im Kindesalter mit so einer langandauernden Finsternis zurechtkommen mußte: »Verzeih uns, daß wir dir das angetan haben.« Aber wer waren eigentlich diejenigen, die dem Kind ›das‹ angetan hatten? … Warum war der Preis für das ›Fremdsein‹ in manchen Ländern zu manchen Zeiten derart hoch? … Der kleine Yorgos konnte diese Fragen freilich weder sich selbst noch jemand anderem stellen. Er lebte auf einem Boden, wo sich die ›Fremden‹ solche Fragen vielleicht nie würden offen stellen können … Genauso wie es jenseits jener Grenze war … Der Landstrich war ein unglücklicher Landstrich, die Zeit eine unglückliche Zeit, und alle diese Vorfälle zeigten wieder einmal die Künstlichkeit und Sinnlosigkeit dieser von irgendwem gezogenen Grenzen. Das eigentliche Unglück wurde durch die Grenzen verursacht. Den Preis dafür bezahlten jedoch die Menschen … Aber seine drängendste Frage in jenen Tagen war wohl, wie er ohne Mutter leben sollte. Diese junge Frau, die es gewagt hatte, sich vielen Kämpfen zu stellen, hatte das

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