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Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Titel: Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Levi
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trotz aller Verluste nicht unterkriegen zu lassen, viele Kämpfe zu überstehen … Er nahm mein Angebot nicht an. Er könne schon für sich selbst sorgen, sagte er, indem er uns ein wenig neckte. Zudem wolle er an die frische Luft und laufen. So wie ich ihn in unserer ersten Nacht in Ortaköy hätte gehen lassen. Er brauchte offensichtlich diese langen Spaziergänge durch die Nacht. Wir umarmten einander. Es waren wieder keine Worte mehr nötig. Oder unsere Blicke, unsere Gesten waren unsere Worte und sagten, was es zu sagen gab. Er umarmte auch Çela herzlich, freundschaftlich. Dieser Mensch war vielleicht im Grunde ganz einsam, durch eine innere, verborgene Wunde sehr verletzt, doch er wollte immer noch nicht sein Lächeln aufgeben und den Willen, andere zum Lächeln zu bringen; er war noch einmal der Mensch, der sich sozusagen unter dieser Devise am Leben hielt. Seine an Çela gerichteten Worte brachten diese Devise deutlich zum Ausdruck.
    »Bei meinem nächsten Kommen vergesse ich den Blumenstrauß nicht.«
    Sie war nicht die Frau, die auf so eine Neckerei nicht reagiert hätte. Die Antwort kam entsprechend.
    »Aber einen großen! … Ich habe einen teuren Geschmack, vergiß das nicht! …«
    Sie miteinander so befreundet zu sehen, reichte mir als erneute Hoffnung für die Erzählung. Mehr konnte ich von dieser Nacht nicht verlangen. Dann blieben Çela und ich allein. Wir waren müde und gingen sofort zu Bett. Im Bett umarmten wir einander. Wir sprachen nicht viel. Ich war beruhigt, daß ich ihr von Şebnem erzählt hatte. Natürlich hatte ich nur das erzählt, was ich erzählen konnte. Das übrige war mein Geheimnis. Ein Geheimnis zwischen Şebnem und mir, das ich bewahren wollte … Die Geschichte hatte so begonnen, und sie würde sich so in mir fortsetzen. Das konnte ich nach so vielen Jahren nun besser verstehen. Ich würde das Geheimnis soweit wie möglich bewahren.

War die Stimme von Yorgos sehr weit entfernt?
    Jeder Tag schien nun eine neue Begegnung zu bringen. Die schnell wechselnden Szenen, die viele Geschichten enthielten, bekamen immer mehr die Bedeutung eines schwieriger werdenden Überlebenskampfes und gingen weit hinaus über meine Absicht, das alte ›Spiel‹ erneut in mein Leben hineinzutragen. Dennoch beklagte ich mich nicht. Ich hatte mir gewünscht, die restliche Zeit meines Lebens so zu leben, und würde es tun. Die Begeisterung für den eingeschlagenen Weg, sogar die Unruhe, ja die Trauer, die aus manchen Verlusten, Fehlleistungen der Vergangenheit erwuchsen, waren unausbleiblich.
    Meine ersten Schritte hatten mich mit unerwarteten Lebensgeschichten konfrontiert. Ich hatte Necmi und Şebnem an anderen Orten finden wollen. Doch ich konnte die Wirklichkeit nicht ändern. Ich mußte mich mit dem auseinandersetzen, was ich zu sehen bekam. Mich auseinandersetzen und lernen, mit meiner neuen Last zu gehen … Um den Ort, an dem ich nach meinem jahrelangen Weg angekommen war, besser sehen und verstehen zu können … Ich sah mich eher als einen Menschen, der in dem stillen Zimmer, in dem er sich befand und zu bleiben vorzog, Zuflucht zum Frieden genommen hatte, dem Traum vom Frieden mit sich selbst. Wie sehr hatte ich daran geglaubt, daß dieser Raum ein Zufluchtsort sei … Dabei hatten die Stürme angedauert. Die im Laufe der Zeit mitgeschleppten Fragen und Antworten dauerten ebenfalls an. Um Antworten zu geben, mußte man aber den Mut haben, Fragen zu stellen. Sah beispielsweise Necmi den letzten Raum, den er sich zum Leben ausgesucht hatte, als einen sicheren Hafen an nach jenen Stürmen, denen er mehr als ich ausgesetzt gewesen war? … Oder Şebnem? … Wußten wir, wo in ihrem Raum, in den sie, wie es aussah, niemanden hineinließ, sie die Stürme verbarg, oder ob sie sie spürte? … Vielleicht war dieser Raum für sie der Ort, an dem sie bis zum letzten Atemzug bleiben wollte. Das war ihr Leben. Vielleicht hatten wir kein Recht, uns einzumischen, diese Festung einzureißen und für uns zu erobern. Wenn dem so war … Wenn dem so war, wie konnte und sollte ich mir all das erklären, was ich getan hatte? …
    Ich stellte mir alle diese Fragen an dem Morgen nach der langen Nacht, die ich mit Necmi verbracht hatte. Ich fühlte mich unwohl. Waren die Schritte, die ich unternommen hatte, egoistisch? … Erlebte ich vielleicht eine leise Freude beim Zuschauen? … Gaben mir insgeheim die Zusammenbrüche anderer Kraft? … Es fiel mir schwer, das von mir zu glauben. Mit so einem Menschen zu

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