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Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Titel: Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Levi
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Wirklichkeit wiedergaben oder ob er etwas dazuerfunden hatte, wieweit das Gesagte richtig oder falsch war oder das Ergebnis der poetischen Seite des Erzählers, ob er Dinge weggelassen und in den Tiefen der Zeit begraben hatte, an die er sich nicht hatte erinnern wollen. Wir brauchten nicht danach zu fragen … Die Erzählung war seine Erzählung. Mit dem, was er gesagt hatte und nicht hatte sagen können … Mit ihren Lügen, Träumen und Fakten … Unsere Wahrheit war an jenem Abend seine Wahrheit, was wir sahen, war so, wie er sich an diese vergangenen Ereignisse erinnern und darüber erzählen wollte, das Erleben und Erlebenlassen ging so in unsere Geschichte ein, würde sich so eingraben …
    An jenem Abend erfuhren wir noch eine andere Tatsache, deren Richtigkeit wir nicht bezweifeln, der wir darüber hinaus nicht ausweichen konnten. Auch diese Erzählung war für uns schicksalhaft. Etwas später sollten wir Zeugen werden von Ereignissen, die wir bewältigen mußten. Durch ein verspätetes Geständnis kam die Angelegenheit zur Sprache. Die erdbebenartigen Erschütterungen, die die ›Schauspieltruppe‹ dadurch erlebte, waren erneut für uns alle eine Prüfung. Yorgos sagte, er habe sich in Şeli verliebt. Diese Liebe würde erwidert. Ihre Beziehung sei etwas Ernstes. Um uns seine Gefühle mitzuteilen, habe er uns ›unter Männern‹ zusammengerufen. Wir sollten das jetzt wissen. Er würde sie heiraten. Sie würden nach Frankreich gehen und dort ein neues Leben anfangen … Er war aufgeregt, mehr als aufgeregt, als er von diesem Traum von einem neuen Leben sprach. Womöglich war er wieder einer Verwirrung ins Netz gegangen und erwartete von uns Unterstützung, vielleicht sogar Bestätigung. Ich schaute Niso an. Er schaute mich ebenfalls an. Durch Blicke teilten wir einander mit, daß diese unmögliche Liebe dem Tod geweiht war. Wir kannten uns sehr gut aus. Mit diesem Wissen waren wir groß geworden, dadurch hatten wir gelernt, wer wir waren. Wir wußten nur zu gut, welche Gefühle welche Mauern nicht überwinden konnten, wer wo und wie ausgebremst wurde … Wir wußten, die Realität war mit aller Strenge in unserem Bewußtsein, in den Worten, die wir nicht immer ausformulieren konnten, und sogar in unserem Schweigen. Wo also war in dieser Realität der Weg, den Yorgos gehen wollte im Namen der Reinheit einer solchen Liebe, mit der er die Hand jenes Mädchens halten wollte? … Ich hatte nicht den Mut, diese Frage zu beantworten. Also hatte der Poet in ihm trotz der Härten, die er hatte erleben und ertragen müssen, noch nicht aufgegeben, Träume zu spinnen. Vielleicht war ja der Abenteuergeist seiner Eltern auf ihn übergegangen. Oder … Oder er wollte glauben, nur durch einen solchen Traum die Härte erweichen zu können. Er sprach davon, eine Familie zu gründen, eine unzerstörbare Familie. In gewisser Weise konnten wir in dieser Erwartung die Tiefe sehen. Darin lag nichts Erstaunliches, nicht Unerwartetes. Zeigte ihm aber das Verführerische, das Trügerische, ja die Täuschung seiner Erwartung nicht ausreichend, daß diese Familie eigentlich in weiter Ferne lag? … Was aber erwartete Şeli von dieser Beziehung? … Was sagte sie zu Yorgos, und was konnte sie ihm nicht sagen? Wenn für sie diese Liebe ebenfalls ein Protest war wie jede echte Leidenschaft, wenn sie auch Todesgefahr bedeutete, wie glaubhaft war dann der Protest? … Die Antworten würden wieder im Laufe der Zeit kommen. Mit der Zeit … Indem man lebte und nicht leben konnte … Doch an jenem Abend an jenem Tisch gab es nur die Liebe. Eine Liebe, die uns dazu brachte, mit der Hoffnung, Begeisterung jener Tage aufs Leben zu blicken, wenn auch unter dem Eindruck unserer Mängel und Erwartungen … Eine Liebe, die wir, weil wir sie selbst noch nicht gefunden hatten, mit einer nicht einmal vor uns selbst eingestandenen Eifersucht in unser Leben einbauten. Yorgos las uns die Gedichte vor, die er für Şeli geschrieben hatte. Sie waren traurig, aber auch voller Hoffnung … Nachdem wir diese Gedichte gehört hatten, hatte ich kein Verlangen mehr danach, die Tatsachen tiefer zu hinterfragen. Denn die eigentliche Realität lag in jenen Gedichten verborgen … In jenen Versen atmete die Realität, die wir nicht erlebt hatten, vor der wir uns fürchteten, von deren Anziehungskraft wir jedoch voller Erschütterung fasziniert waren …
    An jenem Morgen, an dem ich mir lange Zeit ließ, um in die Vergangenheit zu tauchen, sah ich auch andere Szenen

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