Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach
Exil nicht ertragen. Die Entwicklung war unaufhaltsam. Aus diesem tiefen Schlaf gab es kein Erwachen. Auf dem Totenbett schärfte sie ihm ein, er solle unbedingt studieren und nicht aufgeben, bis zuletzt kämpfen. Er nickte, auch wenn er nicht wirklich verstand, was sie meinte. Anfangs konnte er nicht mal weinen. Er wußte ja noch nicht, was der Tod bedeutete. Nun war er mit seinem Vater allein. Noch war nicht klar, wohin und wie sie gehen sollten. Ihr Geld ging langsam zu Ende. Einige Monate lebten sie noch weiter in Verstecken. Dann sagte sein Vater eines Morgens, er werde ihn nach Istanbul bringen. So könnten sie nicht weiterleben. Yorgos mußte irgendwie wieder zur Schule gehen. Also besuchten sie ein letztes Mal die Stelle, wo sie die Mutter still begraben hatten. Es war ein leeres, ziemlich breites Feld. Die Erde verlangte keine Erlaubnis, keinen Ausweis. Die Erde, die echte Erde, hatte eine Sprache, doch jene Grenzen hatten keine. Die stille Zeremonie paßte zur Heldin eines solchen Kampfes … Sie würden sie dort zurücklassen und womöglich niemals wiederfinden. Zum ersten Mal erlebte Yorgos den Abschied, den wirklichen Abschied.
In Istanbul hatten sie keine großen Probleme. Ihn erwarteten die dunklen, kalten Schlafsaalkorridore, wo die elternlosen Kinder wohnten und einen Überlebenskampf anderer Art führten. Das Krankenhaus La Paix beherbergte in einigen Zimmern diese Kinder. Er verstand. Es war Zeit, sich auch von seinem Vater zu trennen. »Vater hatte auf dem Weg davon gesprochen, an was für einem Ort ich bleiben würde. Er wußte, wir waren nicht an einen besonders tollen Ort gelangt. Doch wir hatten keine andere Wahl mehr. Zumindest würde ich von dort nicht mehr fliehen müssen. Ich hatte ihn schon lange nicht mehr so glücklich gesehen …«, sagte Yorgos in dem Augenblick, als er sich an die Abschiedsszene erinnerte. Seine Augen waren feucht geworden, und es schien, als sei er weit fort … Wir schwiegen. Wir wagten nicht, die Erzählung mit unseren Worten zu zerstören. Er aber fuhr fort nach einem Schweigen, das uns damals sehr lang vorkam.
»Wir saßen im Garten des Krankenhauses. An jenem Tag … Ich wußte so gut, daß ich ihn an jenem Tag zum letzten Mal sah … Eine innere Stimme sagte mir, er wird gehen und nicht zurückkehren, du wirst allein bleiben, du wirst ganz allein erwachsen werden. Ich habe mich nicht geirrt. Er ist gegangen und nie wiedergekommen. Vielleicht hat er Selbstmord begangen. Dieses Leben war sehr schwer zu ertragen. Vielleicht hat er sich auch entschlossen, seine restliche Lebenszeit in einem anderen, weit entfernten Land zu verbringen. Doch er wollte nicht riskieren, mich in ein neues Abenteuer mitzuschleppen. In späteren Jahren habe ich viel an diese Möglichkeit gedacht. Ich wußte, daß ich ihn nie wiedersehen würde. Doch in schweren Augenblicken wollte ich trotzdem glauben, daß er lebte. Manchmal wurde ich wütend und verfluchte ihn, daß er mich verlassen hatte. Ich sagte mir, wenn ich ihn je wiedersähe, würde ich ihm als erstes mit der Faust mitten ins Gesicht hauen. Manchmal war ich traurig, sehr traurig. Sowohl über ihn als auch über mich … Weil wir dies alles erlebt hatten …«
Er unterbrach wieder kurz. Wir warteten. Schweigend … Nur schweigend konnten wir uns ein wenig in das Gesagte einfühlen. Auf unserem Tisch hatten wir Raki, Käse, Honigmelonen, panierte Leber, Auberginensalat, gefüllte Miesmuscheln und paçanga börek stehen. Das Gedächtnis der Stadt mit seinen unterschiedlichen Geschichten vereinte uns wieder an einem Tisch. Sein weiteres Leben verlor sich in den Echos und Nächten jenes Waisenhauses, das er als sein Heim kannte, wobei wir fühlten, daß er davon nicht viel erzählen wollte. Sein Weg hatte ihn von jener uns unbekannten Dunkelheit irgendwie in unsere Schule geführt. Er hatte die Lücke, die durch sein Zuspätkommen und die Brüche seiner Biographie entstanden waren, gefüllt, so gut er konnte. In diesen seinen Lebensumständen lag begründet, daß er zwei Jahre älter war als wir und daß er manchmal sehr jähzornig, hart sein konnte …
Nach dem Telefongespräch an jenem Morgen, das ich geführt hatte, um die Spur von Yorgos in Athen zu verfolgen, lief diese Erzählung wie ein Film vor meinen Augen ab, wie es so schön heißt. Ja, meine Erinnerungen glichen einem Film. Insbesondere wenn ich daran dachte, was er mit uns zusammen erlebt hatte … Wir konnten freilich nicht wissen, ob seine Erzählungen die reine
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