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Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Titel: Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Levi
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Töchtern für immer zu den Verwandten nach Tel Aviv ging. »Ich blieb aufgeschmissen allein zurück«, sagte er, wenn er an diese Stelle der Erzählung kam. Dann hörte ich aus seiner Erzählung nicht so sehr die Stimme der Wut, des Zorns, sondern eines tiefen Leids. In solchen Momenten erkannte ich noch mehr, was für ein gutgläubiger und verletzlicher Mensch er war. So eine Liebe verlangte Mut. Doch meiner Meinung nach hatte er sich bei dem, was er tat, dem Leben gegenüber weniger von Mut leiten lassen, sondern im Gegenteil von seinen Schwächen und, was noch schlimmer war, von dem Glauben, alle Menschen seien so wie er … Das Leben war nicht so, wie er es erwartete, wie er es sich in seiner Phantasiewelt ausgemalt hatte … Als er die Realität ein klein wenig erkennen konnte, war es schon zu spät. Vielleicht war es ungerecht, daß er vor aller Augen nach so vielen Jahren des Lächelns, mit seinem so poetischen Gemüt und seiner Rückhaltlosigkeit diese in jeder Hinsicht äußerste Armut erleben mußte, aber letztendlich war dies das Ergebnis der Verwirrung. Soweit die Erzählung. Das Ende vom Lied war, daß er mit dem Großteil des Kapitals aus seinem Laden die Spielschulden des älteren Bruders des Mädchens bezahlte, das er so wahnsinnig liebte. Nach einer Weile verließ ihn jenes Mädchen und verschwand.
    Trotz allem, was er erlebt hatte, konnte Cousin Mordo nicht aufhören, weiterhin mit diesen naiven Gefühlen und seinem Lächeln ins Leben zu blicken. Vielleicht war dieses Spiel der Phantasie das einzige oder beste Spiel, das er zu spielen verstand, vielleicht seine eigentliche Realität. Vielleicht unterließ er deswegen nie, sich stets sehr sorgfältig zu kleiden. Außerdem war er ein gutaussehender Mann. Manchmal summte er Schlager von Tino Rossi vor sich hin, mit dem man ihn in der Jugendzeit öfter verglichen hatte. »Le plus beau tango du monde« – »Der schönste Tango der Welt« – war ihm das liebste Lied, an das er sich am besten erinnerte. »Es war der schönste Tango der Welt, den ich in ihren Armen getanzt habe.« An wen erinnerte er sich, wenn er diesen Tango sang? An das Mädchen, das er geliebt und nicht hatte vergessen können? An seine Frau, die ihn verlassen hatte? Oder an seine Töchter, auf die er sehnsüchtig wartete? … All das Schöne war gänzlich in jenen Bildern geblieben. Manchmal frage ich mich, warum ein so gut aussehender Mann so eine große Niederlage erlebt hat. Diejenigen, die mit Schönheit gesegnet waren, wurden ja vom Leben bevorzugt, so daß sie immer einen Schritt voraus waren, wenn sie sich unter die Menschen mischten. In jener bitteren Komödie hatte dieser Vorzug jedoch keine rechte Bedeutung. Was konnte man weiter erwarten von einem Mann, der Lyrik sehr liebte und wichtig nahm, obwohl er ein schlechter Dichter war. Manchmal las er mir aus jenen alten Heften die Gedichte vor, die er für jenes Mädchen geschrieben hatte. Er wurde dann immer sentimental und versank in der Erinnerung an seine Schmerzen …
    Oft sagte er auch, er habe die Leitung des Ladens. Das war eine der wichtigsten Repliken jener bitteren Komödie. Denn eigentlich brauchte ihn in diesem Laden keiner. Ich bin mir sicher, auch mein Vater dachte so. Doch der hatte trotz all seiner Härte eine mitleidige Seite. Einmal äußerte er: »Hätte ich den Blödian nicht hier aufgenommen, dann hätte er sich umgebracht, hundertprozentig!« Er hatte recht. Meiner Ansicht nach hatte es für Cousin Mordo nach seinem großen Zusammenbruch und dem Sturz in jenen Abgrund keine andere Rettung gegeben, als in diesem Laden zu arbeiten und sich in einer erneuten Selbsttäuschung ans Leben zu klammern. Hatte das Leben ihn im Laufe der Zeit noch ängstlicher und schüchterner gemacht? Wer weiß … Doch wirklich sehenswert war sein Benehmen, wenn ich mit ihm von der ›Revolution‹ redete, wenn seine ängstlichen Blicke und sein Augenzwinkern mir signalisierten, ich solle nicht weiterreden. Eigentlich war es ein bißchen gemein von mir, daß ich absichtlich weitersprach, wenn ich diese Angst sah. Eine Gemeinheit oder – aus anderer Sicht – ein weiteres Spiel der Einsamkeit, das von beiden fortgeführt werden wollte. Vielleicht versuchte ich auch unbewußt, aus seinen Schwächen Kraft zu ziehen. Vielleicht auch liebte er seine Rolle in diesem Spiel, und er wollte allen, mich eingeschlossen, diesen ängstlichen Mann zeigen, als ob er sich heimlich ein wenig lustig machte über sein Leben, wobei er glaubte, er

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