Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach
könnte sich durch Ironie an die Welt klammern … Woher soll ich das wissen …
Eines Tages kam aus dem Haus in Kurtuluş, wo er seit Jahren in einem Zimmer als Pensionär gelebt hatte, die Nachricht von seinem Tod. An seiner Beerdigung beteiligten sich nur wenige Menschen. Doch eine seiner Töchter war aus Israel gekommen. Ich ging zu dieser mir ganz fremd erscheinenden Cousine hin und sagte: »Ihr Vater war ein wundervoller Mensch; es tut mir sehr leid, daß ich ihn verloren habe.« Ich wollte meinen Groll irgendwie äußern, doch bemühte ich mich, ruhig zu bleiben und mit gemäßigter Stimme zu sprechen. Das verlangte die Atmosphäre bei einer Beerdigung. Eigentlich hätte ich laut losbrüllen mögen. Denn inzwischen war ich überzeugt, daß diesem gänzlich in seinem Schweigen und seiner Lyrik versunkenen Mann eine maßlose Ungerechtigkeit widerfahren war … Meine Augen waren feucht. Auch ihre Augen füllten sich mit Tränen. Mit zitternder Stimme antwortete sie mir: »Ach, wenn doch auch Sie wüßten, was wirklich geschehen ist …« Ihre Worte konnten die verschiedensten Bedeutungen haben. Ich bohrte nicht weiter nach. Es reichte mir, wenn sie wußte, daß jemand sich in dieser Weise an ihren Vater erinnerte. Mein Vater warf eine Schaufel Erde auf das Grab und sagte dann: »Gott möge ihm seine Verfehlungen verzeihen.« Höchstwahrscheinlich dachte er, sein Cousin habe das falsche Leben gelebt. Was konnte ich tun? … Was geschehen war, war geschehen. Das Wasser hatte längst sein Bachbett gefunden. Wer wollte, konnte sich auf eigene Weise an ihn erinnern.
In den Tagen nach diesem Todesfall dachte ich viel an diesen einzigen Dichter unserer Familie und die unterschiedlichen Erinnerungen, die er mir hinterlassen hatte. Ich stellte mir in bezug auf ihn viele Fragen und konnte keine Antworten finden, die mich zufriedengestellt hätten. Es handelte sich nämlich um die nie erwähnten, im dunkeln gebliebenen Fragen dieser Erzählung. Hatte beispielsweise seine Frau sich wirklich niemals bei ihm gemeldet, nachdem sie das Land verlassen hatte? … War von dort wirklich nie eine Nachricht gekommen? … Wenn sie sich nie gemeldet hatte, war das Rachsucht, Haß? … Und Mordo? … Warum hatte er sich entschlossen, an dem Ort zu bleiben, wo man ihn zurückgelassen hatte? … Warum war er nicht seinen Töchtern nachgereist, wenn schon nicht seiner Frau? … Hatte er all die Jahre darauf gewartet, daß ihm verziehen wurde oder daß man ihm eine Gelegenheit gab, sich zu entschuldigen? … Wollte er ein neues Leben beginnen, nachdem er verlassen worden war, oder war er überzeugt, daß ihm kein anderes Leben mehr blieb? … Am allerwichtigsten war: Was von dem stimmte, was er erzählt hatte, und inwieweit war es ausgedacht? Welche Tatsachen sollte ich nach Ansicht der Frau kennen, die ich nur auf der Beerdigung gesehen hatte und die nicht mal die sieben Trauertage für ihren Vater dageblieben war? … Manche Antworten wußte zweifellos mein Vater. Ich bin mir sicher, auch Mordo hatte sie gewußt. Doch ich war in den Tagen, als sich die Erzählung in dieser Form langsam in mein Gedächtnis einschrieb, mit ihm nicht so lange zusammen, um im Gespräch diese Themen zu vertiefen, besser gesagt, ich habe leider nicht mit ihm zusammensein können. Einerseits kam ich nur selten in den Laden, und andererseits war ich, ehrlich gesagt, von einer ganz anderen Begeisterung erfüllt, die für mich viel wirklicher war. Woher hätte ich ahnen können, daß eines Tages diese Fragen so wichtig würden? … Die Erzählung blieb deshalb in mir nur mit diesen Worten und Eindrücken haften. Mit ihren Lücken, Dunkelheiten und Fragestellungen … Auch bemühe ich mich, mit dem Vorhandenen zufrieden zu sein. Wenn ich mich daran erinnere, daß auch Mordo ein Teil dieses Ladens gewesen ist, werde ich unweigerlich melancholisch, doch ich kann mich sehr leicht trösten mit dem, was ich gewonnen habe, indem ich ihn kannte. Manchmal tut die Erinnerung weh. Doch gleichzeitig läßt sie den Menschen fühlen, daß er dieses Leben lebt. Am ehesten glaube ich an die Erzählung von Cousin Mordo, wenn ich mich dieser Realität zu stellen traue.
Zu einer bestimmten Zeit meines Lebens verkörperten für mich ebendiese Stimmen, Gesichter, Hoffnungen und Erwartungen ans Leben den Laden … Dieses Richtige wie auch diese Fehler … Diese Gemeinsamkeiten wie auch diese Einsamkeiten … Diese Fakten wie auch diese Träume … Es war gewiß eine Komödie, wie ich
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