Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach
hatte … Was hatten wir ertragen … Was für Ängste hatten wir erduldet, um welche Dinge zu retten … Die Bücher, die wir heimlich versteckt, vergraben hatten … Wie wir sogar unser Leben für diese Bücher riskiert hatten … Weil wir wußten, daß diese Bücher noch eine Bedeutung hatten über das hinaus, daß es Bücher waren … Ich mußte nun unbedingt auch etwas sagen, einerseits, um ihn aus seinen Gedanken zu reißen, andererseits, weil ich dieses Gefühl zur Sprache bringen wollte. Damit ich die Nachwirkung jener Bilder leichter ertragen konnte, mußte ich die Existenz eines Freundes wirklich spüren.
»Weißt du, daß das alles den heute Zwanzigjährigen wie ein Märchen vorkommt? … Als hätten wir in einem anderen Land gelebt …«
Es war das Schicksal unserer Generation, diesen historischen Zeitabschnitt in einer zunehmenden Einsamkeit und Fremdheit zu erleben. Doch wir konnten immerhin noch darüber reden. Und trotz aller Tode hatten wir manche Werte in uns noch nicht getötet, nicht töten können … Zudem halfen diese Gespräche auch, das Erlebte zu bestätigen. Vielleicht war der erreichte Punkt ein trauriger, an den wir uns jedoch festklammern mußten, es war ein Punkt, dem wir nicht entkommen konnten, und zugleich einer, den wir brauchten. Jene Ablehnung war nämlich bei all unseren Fehlern auch unsere Ehre, unser Land, unser Leben. Was noch übrigblieb, war die Fortsetzung einer Erzählung … Wir hatten uns selbst mit jenen Erzählungen erzogen, wir hatten sie ja uns selbst und anderen erzählt, zu erzählen versucht …
»Was wir erlebt haben, hat uns aber auch gelehrt, vorbereiteter zu sein auf Gefahren und Schmerzen … Erinnerst du dich an jenes Flittchen, mit der ich zwei Jahre lang gegangen bin, mit der ich eine Beziehung voller Streit gehabt habe, und die mich dann ohne ein Wort der Erklärung verlassen hat? …«
Natürlich erinnerte ich mich, wie denn nicht … Ich fühlte mich gedrängt auszudrücken, was ich wie im Gedächtnis behalten hatte, damit ich mit ihm gemeinsam fortfahren konnte.
»Aviva … Was für schöne lange, blonde Haare sie hatte … Ich habe mir immer gesagt, diese Beziehung geht nie zu Ende, sie endet nicht so leicht. Du bist wohl eigentlich ein bißchen auch ihretwegen dorthin gegangen. Das hast du irgendwie nie zugegeben, doch meiner Ansicht nach war es so …«
Er nickte. Um einerseits meine Worte zu bestätigen, aber auch, um auszudrücken, daß das, was er erzählen wollte, mich verblüffen würde. Ich würde ihn nun eine Zeitlang nicht unterbrechen können.
»Sie war ein Jahr vor mir nach Israel gegangen. Du hast recht, ich hatte sie nicht vergessen können. Wir hatten auch ein-, zweimal telefoniert … Als sie hörte, daß ich käme, sagte sie, sie würde mich vom Flughafen abholen. Ich wußte nicht, was sie in ihrem neuen Leben erlebt hatte. Doch ich hatte durch die Kraft, die mir die Befreiung von den Unterdrükkungen verlieh, ein wenig Hoffnung auf einen neuen Anfang in einem fremden Land. Es war auch möglich, daß sie nicht Wort hielt, nicht kommen, mich versetzen würde … Aber sie kam. Plötzlich stand sie mir am Ausgang des Flughafens gegenüber, als ich verwirrt um mich blickte. Ich hatte sie gefunden, doch bald sollte ich mir sagen: ›Ah, hätte ich sie doch nicht gefunden!‹ Sie hatte sich sehr verändert. Jene langen, gepflegten Haare hatte sie ganz kurz geschnitten. Wie ein Mann … Auch ihr Benehmen hatte sich sehr verändert. Sie war härter geworden. Sie war sowieso frech gewesen, jetzt war sie noch frecher. Und zu ihrer Frechheit kam noch, soweit ich sehen konnte, eine seltsame Distanziertheit, eine spürbare Überheblichkeit. Ich war verwirrt. Ich hatte ja erwartet, einer anderen Frau zu begegnen … Trotzdem versuchte ich, mir nichts anmerken zu lassen. Sie hatte ein kleines Auto. Wir luden die Koffer ein und fuhren Richtung Haifa. Ich hatte eine bestimmte Adresse. Ich wollte in einen Ulpan gehen. Das ist ein Ort, wo ich in einem Intensivkurs die Sprache meines neuen Landes lernen würde … Dort wollte ich mindestens sechs Monate bleiben. Wir würden wahrscheinlich auch Integrationsunterricht bekommen. Sie hörte mir wortlos zu. Dann sagte sie plötzlich: ›In diesem Land nabelt sich jeder auf seine Weise ab.‹ Ich solle von ihr kein neuerliches Beisammensein erwarten. Sie lebe mit einem Juden aus Argentinien zusammen und sei mit ihrem Leben zufrieden, denke sogar daran, bald zu heiraten. Sie könne mir nur bis zu einem
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