Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach
Lied an, indem ich den Radiosprecher spielte. Die Lieder von Moustaki, Brel, Brassens, Montand, Joan Baez, Shirley Bassey, Victor Jara, von Cem Karaca, Timur Selçuk, Fikret Kızılok, Ruhi Su, Özdemir Erdoğan kamen nacheinander zu uns. Ja, das waren unsere Lieder, unsere Kinder, unsere Geschichte … Mit jedem Lied kam sie etwas mehr in Stimmung. Zwischendurch schien sie sogar Beyaz Güvercin (Die Weiße Taube) von Timur Selçuk mitzumurmeln. Ich schloß mich ihr an. Wir erinnerten uns, soweit wir konnten. Wir sprachen den Text mit, so gut es ging. Dazwischen schaute ich zu Zafer Bey hin. Er schien gerührt zu sein. Ich konnte nun an meinen Weg zurück noch mehr glauben. Ich erinnerte mich an meinen Besuch. An jenen Besuchstag, als wir auch unsere Lieder gehört hatten … Was für eine große, tiefe, unendliche Finsternis da zwischen uns geherrscht hatte … Jener Tag schien nun sehr weit zurückzuliegen. Das Gewonnene gemahnte natürlich daran, was wieder verlorengehen konnte. In dem Augenblick liebte ich aber meine innere Trauer, ich liebte sie sehr. Ich fuhr nicht schnell. Mit Absicht nicht. Denn ich wollte, daß sie, indem ich langsam fuhr, den Weg, zu dem sie nach langen Jahren aufgebrochen war, genießen und von selbst manches Detail erfassen sollte. Woher sollte ich wissen, was sie wie sah? … Wir fuhren die Küstenstraße entlang … Ich zeigte aufs Meer. Das Meer … Das Meer, das diejenigen, die diese Stadt kennen und sie wirklich erleben können, niemals vergessen, selbst wenn sie es lange nicht gesehen haben … Das Meer, das wir überall auf der Welt oder in unserem Leben mitnehmen können, das uns niemand wegnehmen kann … Wie erinnerte sie sich ans Meer? … Sie antwortete nicht. Darum hielt ich an einer geeigneten Stelle an. Ich fragte, ob sie von nahem aufs Meer blicken wolle. Sie zuckte leicht mit den Schultern. Diese Bewegung konnte Gleichgültigkeit ausdrücken, aber auch Angst oder ein Schmollen … Ich schaute Zafer Bey an. Er ließ es an Unterstützung nicht fehlen. Seine Stimme war sehr freundschaftlich.
»Komm, laß uns ein wenig am Ufer spazierengehen … Schau, das Wetter ist ja auch sonnig …«
In dem Moment bemerkte ich, daß die Worte des Arztes großes Gewicht hatten. Wir stiegen aus und gingen am Strand entlang. Wir hatten Glück. Der Wind brachte Jodgeruch mit. Die Wellen schlugen leicht ans Ufer. Als wäre für uns alles zusammengekommen, was wir für einen romantischen Rückblick brauchten … Wir setzten unseren Weg fort. Wir fanden ein paar Steinchen und warfen sie ins Meer. Während unseres kurzen Spaziergangs sagte sie kein einziges Wort. Dennoch hatte ich das Gefühl, daß wir ganz tief innen ein sehr bedeutungsvolles Gespräch miteinander führten. Die Worte flossen an einem anderen Ort, sie kamen aus einer anderen Zeit, brachten uns zusammen … Zumindest ich fühlte das so. Denn ich hatte es in den Augenblicken sehr nötig, dieses Gefühl zu erleben, diese Stimmen und alles, woran ich mich erinnerte, zu erleben …
Dann kehrten wir zum Auto zurück und setzten unseren Weg fort. Unsere Lieder erklangen weiterhin. Wir schwiegen erneut. Als wir uns Teşvikiye näherten, fragte ich, ob sie sich an die Orte erinnerte, die wir sahen. Sie erinnerte sich. Wahrscheinlich erlebte sie das Gefühl, von sehr weit her zu kommen. Einen anderen Schluß konnte ich nicht ziehen aus jenem Lächeln, das ein Weinen unterdrückte. Es waren inzwischen Jahre, sogar ganze Leben vergangen. Nicht nur einige Häuser und Straßen dieser Stadt waren gestorben, sondern in uns auch manche Menschen … Wir erinnerten uns dennoch, wollten uns dennoch erinnern … Denn was wir erlebt hatten, war es wert, nicht vergessen und dem Vergessen preisgegeben zu werden. Unsere Lieder spielten weiterhin. In diesem Schweigen suchte ich erneut mich selbst, indem ich das, was wir verloren hatten, in mir vorüberziehen ließ. Der Glaube aber, daß ich diese Suche mit Şebnem teilte, machte den Weg, der uns zu mir nach Hause führte, noch bedeutungsvoller. Dann fuhren wir durch die Rumeli Caddesi, durch Osmanbey, Şişli, Mecidiyeköy und Gayrettepe, bis wir zu dem Haus gelangten, in dem ich meine Jahre verbracht hatte. Als ich an der Tür klingelte, fühlte ich irgendwie, daß wir einen weiteren Schritt hin zu ihr und uns getan hatten. Ich fühlte noch etwas anderes. Erneut wurde ich von einem sehr seltsamen Gefühl erfaßt. Ich brachte Şebnem zu Çela und war beinahe so aufgeregt wie ein junger Mann, der seine
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