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Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Titel: Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Levi
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hatten.
    »Neulich traf ich zufällig in Osmanbey eine von meinen ehemaligen Kommilitoninnen von der Technischen Uni. Auf der Straße, ganz zufällig … Fast hätten wir uns nicht wiedererkannt. Aber wir haben uns erkannt, trotz all der Jahre. Wir setzten uns gleich irgendwohin. Sie wollte reden. Als ich von hier wegging, war sie eingebuchtet. Nach ein paar Jahren kam sie raus … Inzwischen war sie schwer gefoltert worden. Als sie sie freiließen, haben sie zu ihr und noch zu zwei anderen Kameradinnen gesagt: ›Wir haben euch etwas angetan, aber erst Jahre später wird der eigentliche Schmerz kommen.‹ Danach hat das Mädel versucht, sich ein Leben aufzubauen. Sie hat geheiratet und ein Kind bekommen. Dann hat sie sich scheiden lassen und noch einmal geheiratet. Neulich hat sie erfahren, daß sie Gebärmutterkrebs hat … Das ist alles … Ich weiß nicht, was ich tun soll …«
    Natürlich wußte auch ich nicht, was ich tun sollte … Wir würden weiterleben, was konnten wir anderes tun? … Trotz dieser Ungerechtigkeiten würden wir weiterleben … In dem Moment, als ich mich an Niso erinnerte, mußte ich auch an diese Geschichte denken. Es war nicht leicht, auf andere Gedanken zu kommen, doch ich mußte weitergehen, so weit ich konnte. Deswegen erschien es mir als das einfachste, mich daran zu erinnern, daß wir gelernt hatten, mit einer Mischung aus Protest und Hoffnung zu leben. Wir lebten das Leben ja auch wirklich auf diese Weise. Und wahrscheinlich würden wir bis zuletzt so leben …
    Deswegen fiel mir um so mehr auf, wie sehr sich auch Çela für die Einladung begeisterte. Ich merkte, daß sie gefühlsmäßig davon ergriffen war. Der Satz: »Überlaß das mal mir!« bedeutete wesentlich mehr als: ›Du kannst meiner Erfahrung und meinen Fähigkeiten vertrauen.‹ Es gab viele Gründe für ihr Bedürfnis, ihren Herrschaftsbereich zu erleben und erleben zu lassen … Die Hinweise waren schon zwei Tage im voraus zu erkennen gewesen. Sie selbst wollte die Speisen mit Hilfe ihrer Zugehfrau, die seit Jahren ins Haus kam und der sie sehr vertraute, vorbereiten. Dieses Mal, sagte sie, würde es die Spontaneität und Herzlichkeit stören, wenn wir, wie oftmals bei unseren Einladungen mit vielen Personen, eines der Catering-Unternehmen ins Haus kommen ließen, die das Essen und die Bedienung übernahmen. Sie selbst würde den wertgeschätzten Gästen das zubereiten, was im Haus eines Istanbuler Juden geboten werden sollte. Mit anderen Worten, das Haus mußte ein wirkliches Heim sein, es mußte wie ein Heim duften, mußte die Gäste heimelig umfangen. Doch ich übersah nicht, daß es ihr bei diesem Bemühen auch um die Macht ging und daß wir die Gäste eine traditionelle Atmosphäre erleben ließen. Doch warum soll ich es verheimlichen, mich störte das offen gesagt nicht sehr. Es reichte mir, daß Wertschätzung ausgedrückt wurde, das war mir mehr als genug. Deshalb interessierte ich mich sogar nicht mal für die Speisenfolge. Denn eigentlich hegte ich im tiefsten Inneren andere Befürchtungen. Diese Befürchtungen gebaren viele Möglichkeiten, und ich konnte die Gesamtheit meiner Gefühle nun mit meiner Frau, mit der ich meine Jahre verbracht hatte, nicht mehr teilen … Die Wellen in meinem Inneren warfen mich in ein sehr fernes Meer …
    Als ich morgens früh aus dem Haus ging, kamen aus der Küche Essensgerüche. Diese Düfte erinnerten bei aller Ferne an Nähe … An der Tür umarmten wir einander wie an jedem Morgen. In ihrer Umarmung lag dieses Mal eine Weiblichkeit, mit der sie sich selbst ein wenig spüren lassen wollte. Sie flüsterte mir ins Ohr, sie erwarte Şebnem. Vielleicht könne sie sie ein wenig besser auf den Abend vorbereiten. Ich verstand nicht recht, was sie meinte. Doch ich konnte verstehen, daß sie mir vermitteln wollte, sie stehe an meiner Seite. Ich merkte auch, daß sie sich selbst bemerkbar machen wollte. Dagegen gab es nichts einzuwenden. Ich antwortete, wir würden die nötige Zeit finden, alleine zu sein, und ging hinaus.
    Auf der Fahrt zum Krankenhaus wurde mir erneut deutlich, daß mich viele Gefühle auf manche Wahrheiten hinführen konnten, die ich noch nicht sehen, denen ich mich noch nicht stellen wollte. Doch es war nicht an der Zeit, unnötig Probleme aufzurühren. Die Brücke, auf der ich ging, erzeugte in mir eine neue Begeisterung. Für die Rückfahrt nach Hause hatte ich auf meine Weise ein wenig Vorsorge getroffen, um für Şebnem das passende Umfeld zu schaffen. Wir

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