Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach
Welle der Freude auf alle am Tisch ausbreitete. Zwar machte niemand eine Bemerkung, doch mir reichte, was ich aus meinen Beobachtungen ableitete. Necmi aber schien seine Führungsrolle voll ausspielen zu wollen … Er wirkte, als wollte er alle antreiben. Er blickte Şebnem an. Man merkte, daß er vor allem sie durch seine Worte antreiben wollte.
»Was sagst du, Mädel?«
Dieses Mal wendeten sich alle Blicke dem ›Mädel‹ zu, an das die Frage gerichtet war. Ein kurzes, ganz kurzes, aber tiefes Schweigen senkte sich über alle. Mit Spannung wurde die Antwort erwartet. Das ›Mädel‹ schaute vor sich hin und antwortete leise lächelnd mit einer Stimme wie schwankend zwischen Leid und Freude, die mich zuerst erschauern ließ, dann schmerzte, aber mir zugleich eine seltsame Lebensfreude gab.
»Dann schauen wir auch Papillon an … Der Mann ist von den Klippen gesprungen …«
Ich wußte, daß sich Zafer Bey genauso wie ich sehr fürs Kino interessierte. In einem unserer Gespräche hatten wir lange über dieses gemeinsame Interesse geredet. Ich wußte nicht, ob er sich in diesem Augenblick den Film und die Szene vergegenwärtigen konnte, die den Helden in die Freiheit führt, doch ich konnte es, und auch wenn ich mich nicht genau an die Einzelheiten erinnerte, so doch an das Gefühl. Ich sah sowohl jene Szene vor mir als auch jenen Abend, an dem wir den Film zusammen angeschaut hatten, selbst wenn einige Nuancen inzwischen verlorengegangen waren, und jenes Kino, das ich nie vergessen werde … Aus dem, was ich gehört hatte, konnte ich den Schluß ziehen, daß Şebnem sowohl das Gespräch verfolgte als auch weiterdachte. Ich konnte daraus auch schließen, daß wir uns mit zaghaften Schritten einander näherten, aufeinander zugingen. Und was war mit den anderen am Tisch? … Was sahen und wohin blickten sie, was fühlten sie? … Necmi wirkte, als wäre er verwirrt, ja leicht verärgert über die Antwort, die von seinem Aktionsplan wegführte, aber zugleich erfreut, weil er merkte, er hatte eine Verbindung knüpfen können. Seine Reaktion war typisch für ihn.
»Den schauen wir uns an, verdammt noch mal! … Wir schauen den an, klar, Mensch! …«
Auch Niso zögerte nicht, sich einzumischen.
»Es lohnt sich, Dustin Hoffman und Steve McQueen noch einmal anzugucken! … Mensch Şebnem, wie hast du dich bloß an den Film erinnert! …«
Auch Şeli sparte nicht mit einem Beitrag. Alle wollten sich irgendwie einbringen.
»Das Konak-Kino eröffnet aufs neue, los! …«
Yorgos amüsierte sich wohl sehr bei dem Anblick, der sich ihm bot, und warf ein.
»Ihr seid wirklich Kinder, Kinder …«
Er lachte. Aber weil er bei diesen Worten, beim Lachen über das, was er sah, noch mehr als wir alle wie ein Kind aussah, brachte er uns noch mehr zum Lachen. Şebnem fing zu kichern an. Dieses Lachen wirkte ziemlich ›irre‹, doch zugleich ungeniert, natürlich und voller Gefühl … Plötzlich und unerwartet breitete sich Heiterkeit am Tisch aus. Alle brauchten diese Entspannung. Niso nahm eine Olive von der vor ihm stehenden Salatplatte und warf sie Necmi an den Kopf. Das blieb natürlich nicht ohne Revanche. Necmi schüttete Niso das Wasser aus seinem Glas ins Gesicht. Das Ganze geriet fast völlig außer Kontrolle. Şeli lachte dermaßen, daß sie plötzlich das Gleichgewicht verlor und zu Boden fiel. Yorgos stand sofort auf, um sie aufzuheben, was ebenso sehenswert und unvergeßlich war wie die vielen rührenden Szenen, die es bisher gegeben hatte. Innerhalb kürzester Zeit verstummten wir alle schmunzelnd und schickten uns an, den beiden zuzuschauen. Dann … Dann fingen wir erneut zu lachen an. Die beiden jedoch fuhren fort sich gegenseitig mit einem Lächeln anzusehen, das mir sehr bedeutsam, sehr gefühlvoll vorkam. Zafer Bey und Çela betrachteten uns zwar freundlich, aber mit einer trotz aller Bemühungen unverhohlenen Fassungslosigkeit. Ich mußte die Situation in den Griff bekommen und tat, was mir in dem Moment einfiel. Ich mimte eine ernste Haltung und ergriff das Wort:
»Freunde … Wir haben nun aber ein richtiges Problem …«
Die Blicke wendeten sich wieder mir zu. Alle schauten mich lächelnd und doch beeindruckt von meinem Ernst an. Ich stellte ganz ernsthaft meine Frage:
»Habt ihr gar nicht darüber nachgedacht, wie wir diesen Film finden können?«
Alle schauten sich verdutzt an. Sie waren verdutzt, weil sie weder eine Antwort auf die Frage wußten noch wußten, wie sie auf die Abwegigkeit, ja,
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