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Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Titel: Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Levi
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Thema wieder aufzuwärmen. Darum versuchte ich, ihm noch einmal zu geben, was er erwartete. Wobei ich glaubte, eine kleine Abschweifung könnte angebracht sein …
    »Ich habe auch schon eine Lesebrille. Ohne Brille kann ich nicht mal eine Zeile lesen …«
    Darauf antwortete er wieder mit seinem durchtriebenen Gesichtsausdruck. Es war deutlich, daß er mich aufziehen wollte.
    »Du brauchst vor allem eine Brille, um Geld zu zählen! …«
    Ich antwortete ihm dieses Mal nicht mit einem Fluch, sondern grinste und dachte, es sei richtiger, seine Frotzelei mit Frotzeln, vielmehr seinen Angriff mit einem Angriff zu kontern.
    »Laß das jetzt mal, und sag mir, Junge, was ist das für eine Arbeit, Fremdenführer? … Wie hast du dich auf diese Weise dem System ausliefern können? … Du konntest ja nicht mal gescheit Französisch?«
    Mir kam gar nicht in den Sinn, daß er Fremdenführungen in einer anderen Sprache als Französisch machen könnte. Er zeigte mit dem Zeigefinger auf mich, wie um mich auf eine Überraschung vorzubereiten, und lachte wie ein Kind. Ich brauchte nicht lange zu warten, um zu erfahren, daß ich mich nicht getäuscht hatte. Was er erzählte, sollte mich in eine wiederum ganz unerwartete Erzählung hineinziehen. Wir taten einen Schritt in ein anderes Leben hinein. Sogar die Sprache dieses Lebens war anders.
    »Nachdem ich draußen war, wußte ich nicht, was ich machen sollte. Ich hatte keine Lust, nach Ankara zurückzukehren. Ankara war abgeschlossen, dieses Ankara war für mich tot … Wenn du wüßtest, wie fern meine Träume gerückt waren, Staatssekretär oder Diplomat im Auswärtigen Dienst zu werden. So ein Leben wollte ich nicht mehr. Besser gesagt, ich konnte es nicht wollen. Mein Studium war nicht abgeschlossen. Mir fehlten nur einige Seminare, doch wie hätte ich nach einem derartigen Bruch je wieder dorthin gehen können? … Noch dazu in dem Wissen, daß einige meiner Freunde aus dieser Stadt als Kämpfer für unsere Sache gefallen waren … Ein paar saßen immer noch … Und von einigen hörte man überhaupt nichts mehr … Wir hatten den Kampf in den Straßen jener Stadt geführt, und die Stadt war nun ohne sie … Wie hätte ich in jenes Ankara zurückkehren können … Einmal abgesehen davon, selbst wenn ich das Studium abgeschlossen hätte, hätte ich meine Träume trotzdem nicht verwirklichen können. Höchstwahrscheinlich hätte ich ja zum ›Risikopersonal‹ gehört. Das bedeutet, daß du in kein Staatsamt gelangen kannst, das klebt ein Leben lang an dir. Ich weiß nicht, ob sich das inzwischen geändert hat. Es interessiert mich nicht mehr. Doch damals war das so. Außerdem damals … Damals wollte ich nach all dem, was vorgefallen war, für einen solchen Staat gar nicht mehr arbeiten. Verstehst du, die Bindung war völlig zerrissen. In Wirklichkeit waren auch meine Bindungen an dieses Land zerrissen. Ich hatte nicht nur Ankara, sondern auch die Türkei in mir getötet. In jeder Hinsicht … In jenen Tagen faßte ich den Entschluß, ins Ausland zu gehen. Wir hatten natürlich mit unterschiedlichen Stellen Verbindungen. Am geeignetsten war Griechenland. Ich wußte nicht, wie lange ich dort würde bleiben können, aber ich zweifelte nicht, daß man mich irgendwo irgendwie unterbringen würde. Ich ging davon aus, daß ich lange nicht zurückkehren würde. Vielleicht würde ich überhaupt nicht zurückkehren. Manche Türen standen unsereinem offen. Zudem konnte ich den Kampf auch dort weiterführen. Zugleich hätte ich mich von einigen lästigen Verrätern befreit, die ich nur schwer ertragen konnte. Es war am besten, sie in ihrem Land ihrem Schicksal zu überlassen.
    In Athen unterzog ich mich in bezug auf jene Fragen einer eingehenden Selbstprüfung. Doch ich konnte mich nicht lange in solche Gedanken vergraben. Ich mußte das abschütteln … Ich wollte mir doch ein anderes Leben aufbauen … Zuerst lernte ich Griechisch. Ich konnte selbst kaum glauben, welche Fortschritte ich innerhalb kürzester Zeit machte. Bei den Aktivitäten für die Beziehungen der Organisation lernte ich eine Griechin kennen. Ihr Name war Ira. Sie war sechs Jahre älter als ich. Das Leben hatte auch sie gebeutelt. Sie sah älter aus, als sie war, doch gleichzeitig war sie unglaublich schön. Oder mir erschien es so. Ich verliebte mich. Es schien, als sei auch sie von mir beeindruckt. Wir lebten miteinander. Sie war Lehrbeauftragte an der Universität. Soziologin. Sie hatte eine schlimme Ehe hinter sich,

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