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Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Titel: Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Levi
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hätte in diesem Augenblick nicht sagen können, ob er diese Rache wirklich immer nötig haben würde. Statt dessen sagte ich, was er vermutlich hören wollte. In diesem Moment konnte ich nicht anders.
    »Es gibt für jeden eine Zeit, wo er sein Leben einer Prüfung unterziehen muß … Das ist eine Zeit, wo er sich selbst nicht ausweichen kann … Deine Folter ist längst vorbei. Doch seine wird vielleicht ein Leben lang dauern …«
    Ob er wohl glaubte, was ich sagte? … Das weiß ich nicht. Doch ich wollte es glauben. Um seinetwillen. Für solche wie uns und die, die wie er lebten … Er bestätigte das Gehörte wieder mit einer Kopfbewegung. Vielmehr deutete ich sein leichtes Nicken so. Hatte er sich klargemacht, daß die Henker sich eines Tages selbst als Opfer würden sehen können? … Wo waren wir im Gespräch gelandet … Wir schwiegen erneut … Dann plötzlich lächelte er wieder sein vieldeutiges Lächeln. Wir tauchten an einer anderen Stelle in die Vergangenheit ein …
    »Einmal hatte ich auch ein sehr seltsames Erlebnis. Nach der Folter, als mir die Augenbinde abgenommen wurde, erblickte ich einen Mann mit einem rechtschaffenen Gesicht. Er war etwa so alt wie mein Vater. Er erzählte mir von ihm. Sie hatten zusammen Jura studiert. Er wußte dermaßen viel über mich, daß ich verblüfft war. Er begegnete mir sehr freundschaftlich. Er ermahnte mich, regte sich auf wie ein Vater und tadelte mich. Weil ich als Sohn eines solchen Vaters zu einem derartigen Kommunisten geworden war … Mein Vater war wirklich ein Nationalist gewesen. Ich wußte nicht, was ich sagen sollte. In dem Moment fühlte ich mich ihm sehr nahe. Fast hätte ich angefangen zu weinen. Unter der Folter war ich standhaft geblieben, jetzt konnte ich bei seinen Vorhaltungen fast nicht mehr standhaft bleiben. Doch er forderte mich mit keiner Frage zum Auspacken auf. Statt dessen fragte ich ihn nach meinem Vater, ich hatte den Mut, ihn zu fragen, wie er gestorben sei. Ich fühlte, er kannte die wahre Antwort. Er neigte den Kopf und sagte: ›Man weiß nie, wen der Staat wann und wie durchstreicht …‹ Er war eine Weile still. Dann fuhr er fort: ›Oder eigentlich weiß man es, man wartet darauf, wenn es soweit ist …‹ War er aufrichtig? … Es wirkte so. Denn er war sehr bewegt, als er das sagte. Vielleicht aber spielte er, wollte mir verdeckt drohen … Doch hier hörten wir auf, er ging nicht weiter, wie ich schon sagte … An jenem Abend bekam ich ein besonderes Essen gebracht. Menemen , eine Eierspeise, gefüllte Mangoldblätter mit Joghurt, frisches Weißbrot und als Nachtisch süß eingelegten Kürbis mit Walnüssen … Diese Speisen mochte ich sehr gerne. Ich war aufs neue verblüfft. Ich hatte doch gar nicht soviel geredet. Folglich konnte das keine Belohnung sein. Es gab außerdem gar keine solche Belohnung … Als ich nachfragte, sagten sie, das sei ›das Essen des Oberstleutnants‹ … So erfuhr ich, mit wem ich gesprochen hatte … Auch das haben wir erlebt … Wie du siehst, war nicht alles ganz so schlecht …«
    Er war ein wenig heiterer geworden. Er kam vom einen aufs andere, doch war es trotzdem möglich, die Teile miteinander zu verbinden. Wahrscheinlich konnte er nur auf diese Weise erzählen, was er erlebt hatte. Ich mußte wieder schweigen. Er fuhr sowieso fort, ohne mir die Gelegenheit zum Reden zu geben, nachdem wir nur kurz geschwiegen hatten:
    »Eigentlich ist meine Lage wirklich nicht so schlimm. Vorigen Monat war ich wegen einer neuen Brille beim Augenarzt. Was glaubst du, was bei der Untersuchung rauskam? … Meine Kurzsichtigkeit hat sich gebessert! … Ich brauche nur noch Glasstärke 5,5. Außerdem brauche ich zum Lesen keine andere Brille mehr.«
    Als ich dies hörte, mußte ich unwillkürlich denken, daß er die Sache mit der Brille trotz des Verlusts seines Auges immer noch nicht verwunden hatte. Ein Bild aus unseren früheren Tagen trat mir noch einmal vor Augen. Mit seinem schwarzen, dicken Brillengestell wurde er unvermeidlich das Ziel des Spottes von Menschen, die dermaßen einfach gestrickt waren, daß es ihnen gar nicht in den Sinn kam, aus ihrer Gewöhnlichkeit auszubrechen, oder die, ohne es zu merken, jene oberflächlichen Beziehungen zum Schutzschild ihrer Schwächen machten und die ihre Ausweglosigkeit nur ertragen konnten, wenn sie sich an die allgemein anerkannten Werte klammerten. Als ich mich an jene Gemeinheiten erinnerte, tat es mir aufs neue weh. Es war jedoch nicht an der Zeit, das

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