Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach
nachdem sie ziemlich früh geheiratet und sich dann getrennt hatte. Offiziell war sie nicht geschieden, doch hatte sie seit Jahren keine Nachricht mehr von ihrem Mann, der aus Mardin stammte und als politischer Flüchtling nach Schweden gegangen war. Du wirst sagen, die Frau interessierte sich für Männer von unserer Scholle. Das war vielleicht auch Schicksal. Sie konnte ein wenig Türkisch, doch noch besser schien sie Kurdisch gelernt zu haben. Was sie gelernt hatte, das versuchte sie an mich weiterzugeben. Ich bekam Kurdischunterricht von einer Griechin, gut, was? … Sie hatte eine sechsjährige Tochter. Mit ihr verstand ich mich sehr gut. Das Leben floß auf angenehme Weise dahin. Plötzlich waren wir eine kleine Familie geworden. Ich fand die Wärme, die ich seit Jahren vermißt hatte. Und auf welche Weise, durch welches Tun, wo? … Wie du siehst, war ich fortwährend ›Vaterlandsverräter‹ …
Diese Familie trug sehr dazu bei, mein Griechisch weiterzuentwickeln. Es kam der Tag – du wirst dich wundern –, als ich anfing, fließend Griechisch zu sprechen. Ich konnte sogar Gedichte lesen und verstehen. Ira fand für mich eine Arbeit in der Stadtbibliothek. Auch da las ich viele Bücher. Das Leben ging weiter. Das heißt, es lief, soweit es laufen konnte … Ich führte lange Telefongespräche mit meiner Mutter, die sie rührten, wie ich spürte, die mich aber ebenfalls sehr rührten. Mit der Zeit sollten wir immer mehr einsehen, welch große Bedeutung diese Telefongespräche hatten und wie sie uns innerlich erschütterten … Es war offensichtlich, daß wir eine Lücke zu schließen versuchten. Nach meiner Entlassung aus dem Gefängnis war ich nur kurz bei ihr gewesen, ehe ich mich auf das Auslandsabenteuer eingelassen hatte. In der kurzen gemeinsamen Zeit hatten wir aber nicht viel miteinander reden können. Sie wußte nicht, was ich erlebt hatte. Sie ahnte es bloß, vermutete etwas, wußte aber nichts. Vielleicht wollte sie es auch nicht wissen. Und ich erzählte nichts. An dem Tag, als sie mich im Gefängnis von Sağmacılar besuchen kam, hatte ich ebenfalls nichts erzählt. Hätte sie alles erfahren, die gute Frau hätte einen Herzschlag gekriegt. Schau mal, merkst du, wie ich ›gute Frau‹ gesagt habe. Wie hätte ich ihr nach allem, was ich erlebt hatte, weiterhin böse sein können … Noch dazu … An jenem Tag … Nachdem, was sie an jenem Tag gesagt hat …«
Seine Stimme brach plötzlich wieder. Also gehörte diese Begegnung zu einer der wichtigsten Begegnungen seines Lebens. Ich faßte wieder seine Hand. Ich versuchte, mir die Szene bildlich vorzustellen. Jene Worte trugen auch mich irgendwohin … Ich bin stolz auf dich, mein Sohn, ich bin stolz auf dich … Wie sehr brauchten wir doch solche Worte … Als ich dieses Mal seine Hand faßte, versuchte ich mich gleichzeitig irgendwo festzuhalten. Ich bin sicher, daß er dieses Haltsuchen spürte. Anders kann ich mir nicht erklären, warum er meine Hand ganz fest hielt. Diese Verbundenheit wollte ich ihm geben, indem ich an unsere Tage damals erinnerte.
»Daß Fatoş Abla sich so äußern würde, hätten wir nie gedacht, was? … Wenn das ein Film wäre, hätten der Regisseur, der Drehbuchschreiber dagesessen und gegrübelt, wie kommt es, daß eine Frau, die von ihrem Sohn so weit entfernt scheint oder schien, sich derart verändert? Er würde nach der Glaubwürdigkeit dieser Wandlung suchen. Doch man kann halt nicht wissen, welches die wahren Gefühle eines Menschen sind. Vielleicht können wir nicht einmal die, die uns am nächsten stehen, wirklich so sehen, wie sie es verdienen, weil wir viel zu sehr mit uns selbst beschäftigt sind …«
Wieder leerte er das fast volle Glas in einem Zug. Er füllte unsere Gläser neu. Ich spürte, daß er seine Erzählung fortsetzen wollte. Ich sprach nicht viel. Ich wußte, daß ich in dem, was er erzählen würde, eine Antwort auf meine Worte finden würde.
»Wie hätte ich nach dem, was ich erlebt hatte, weiterhin auf sie böse sein können … Zudem waren wir durch meinen Auslandsaufenthalt inzwischen weitere fünf Jahre getrennt gewesen. Ich war auf dem Weg zurück, doch mochte ich mir das vorerst nicht eingestehen. Aber zwei Ereignisse ließen mich die Wahrheit erkennen und beschleunigten meine Rückkehr. Meine Mutter war in eine tiefe Depression geraten, soweit ich das aus den Telefongesprächen mit ihr entnehmen konnte. Um dies nicht zu verstehen, hätte ich taub sein müssen, in jeder Hinsicht
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