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Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Titel: Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Levi
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anders zeigen. An sich wissen sie schon alles … Alles … Ihr Bestreben ist, einen kleinzukriegen, einen so weich wie möglich zu machen … Weil ich davon fest überzeugt war, haben sie mich nicht kleingekriegt. Natürlich gab es welche von uns, die geredet haben. Manche haben ihre Freunde verpfiffen, wenn ihnen große Gegenleistungen dafür versprochen wurden. Aber weißt du was, sie haben hinterher auch nichts erreicht, wurden nicht befördert. Ich bin sicher, die meisten leiden jetzt innerlich an dieser Gemeinheit. Unsere Generation war nicht so wie die vor uns 7 und hat auch niemals so werden können. Tatsächlich ist das System über uns hinweggegangen wie eine Dampfwalze … Weißt du, ich habe damals diese Realität, ob du das Leben nennst, Wissen, Ahnung oder was sonst, irgendwie sehen können … Das war der Grund, warum ich geschwiegen habe. Zumindest hatte ich so meinen Widerstand bewiesen. Um mich leichter mit dem Tod abzufinden, wenn die Zeit gekommen wäre … In jenen Tagen ging es für uns oft um Leben und Tod … Einmal war ich splitternackt. Es war eiskalt. Sie überschütteten mich mit kaltem Wasser. Ich zitterte. Ich war ganz allein. Als sie an jenem Tag an meinem linken großen Zeh eine Elektrode anschlossen, hatte ich zum ersten Mal Angst, an einem Herzschlag zu sterben. Doch ich sagte mir ständig vor: ›Ich werde hier rauskommen! Ich muß unbedingt hier rauskommen! Ich werde rauskommen! … Sonst hat all das keinen Sinn, was ich erlebt habe.‹ Wenn du wüßtest, wie sehr der Mensch in solchen Zeiten am Leben hängt … Wie hart, wie zäh man wird …«
    Ich entschied mich, wieder zu schweigen. In dem Augenblick konnte ich mit ihm auf einer viel tieferen Ebene sprechen. Ich ergriff seine Hand und drückte sie. Er gab den Druck zurück. Wir zeigten einander auf diese Weise, was wir nicht in Worte fassen konnten. Ich zweifelte nicht, daß er fühlte, was ich fühlte. Dann fuhr er fort, mit jener labilen Lebhaftigkeit zu erzählen, und hielt dabei meine Hand fest … Doch plötzlich brach seine Stimme.
    »Aber einmal wurde ich an einer verwundbaren Stelle getroffen und begann zu weinen. Weißt du, wann das war?… Schau, jetzt muß ich gleich wieder weinen …«
    Er fing tatsächlich an zu weinen, ohne den Satz zu Ende zu führen. Meine Hand war noch immer in seiner. Als er die Szene schilderte, füllten sich plötzlich auch meine Augen mit Tränen. Wie konnte ich bei solch einer Begegnung teilnahmslos bleiben? Ich war derjenige, der jene Zeit am besten kannte.
    »Ich saß inzwischen in Sağmacılar ein. Ich konnte meiner Mutter Nachricht geben. Als sie zum ersten Mal zu Besuch kam, rief sie vor allen Besuchern, Gefangenen und Wärtern in der großen Gemeinschaftsbesuchszelle: ›Ich bin stolz auf dich, mein Sohn! … Ich bin stolz auf dich! …‹ Von ihr hätte ich diesen Ausbruch nicht erwartet. Sie war zum ersten Mal so offen. Da erkannte ich, wie sehr sie mich liebte. Wir weinten beide. Ich war glücklich, daß ich weinen konnte, daß ich endlich weinen konnte. Sehr glücklich … Ich hielt mich für sehr vom Schicksal begünstigt, daß ich das erlebte …«
    Er fuhr zu weinen fort. Auch ich weinte. Doch ich bemühte mich auch, ihn zum Lachen zu bringen. Ihn und mich … Denn ich wußte, daß in solchen Situationen das Lachen von Herzen kam …
    »Heldenmutter Fatoş Abla! … Du warst echt verrückt! …«
    Dieses Mal begann er in seinem aufgewühlten Zustand zu lachen. Ich lachte ebenfalls. Das gehörte zu den eindrucksvollsten Gemeinsamkeiten dieses Abends.
    Dann schwiegen wir wieder. Wir tranken. Als er erneut zu erzählen anfing, war seine Stimme sehr ruhig.
    »Weißt du, was ich all die Jahre wollte? … Dem Mann begegnen, der mir jenen Fausthieb versetzt hat … Vielleicht war er einer von diesen Folterern … Auf der ›Werkbank‹ weißt du ja nicht, wer dir gegenübersteht. Entweder blendet dich ein Licht, oder deine Augen sind verbunden. Aber einige Male kam mir seine Stimme bekannt vor. Vielleicht weil ich sie erkennen wollte. Was denkst du, was ich dann tun würde? … Ich weiß, daß ich nicht verziehen habe … Deiner Ansicht nach … Kann ich deiner Ansicht nach fragen: Warum hast du mir das angetan? … Ich weiß nicht …«
    Er wirkte nicht zornig. Dieses Fehlen von Zorn war mir vorher schon aufgefallen. Zeitweise war er wie abwesend, wie weit fort, ja sogar, als hörte er mir gar nicht zu, was auf eine tiefsitzende Wunde hinwies. In jenem Moment war es ebenso. Ich

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