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Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Titel: Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Levi
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der Schuld befreien. Darum war es ein wenig erleichternd, daß ich seine Blindheit, Taubheit, unverblümt gesagt, seine Schwäche sehen konnte. Würde ich ihm die Geschichte des Familienbildes schildern können, in dessen Farben und Gefängnis ich lebte? … Gewiß würde ich das tun. Das Gefühl bei unserer Begegnung gab mir dieses Vertrauen. Ich beschloß, ihm nicht zu antworten, die kleine, aber bedeutsame Kränkung für mich zu behalten, um mich in der Wärme dieses Vertrauens zu bergen. In jene Zeit der Stille hinein stellte er die zum Sinn des Abends sehr passende Frage.
    »Nun sag doch mal, warum wolltest du mich eigentlich sehen? … Nach all den Jahren …«
    Mir war die Aufrichtigkeit der Frage bewußt. Es lag weder Bissigkeit noch eine Befürchtung darin. Doch konnte ich mir unter dem Einfluß der unausgesprochenen Kränkung einen kleinen Vorwurf nicht verkneifen.
    »Ich habe schon gedacht, du würdest überhaupt nicht danach fragen.«
    In seiner Antwort lag wieder eine tiefe Spur Lebenserfahrung. Auch er schien die Aufrichtigkeit in meinem Vorwurf zu spüren.
    »Alles der Reihe nach, Alter. Das Leben hat uns Warten und Geduld gelehrt.«
    Ich war inzwischen soweit, den nötigen Schritt zu tun.
    »Wenn ich zu dir nun sagen würde Istanbul ist mein Leben …«
    Die Worte erzeugten sofort die erwartete Wirkung. Die Freude auf seinem Gesicht brachte mir den jungen Mann von damals zurück. So sehr hatte ich mir gewünscht, diesen Burschen wiederzusehen … Deshalb nahm ich es nicht wichtig, wie leicht er aus einer Gemütsverfassung in eine andere wechseln konnte. Wie ermutigend war es doch, daß er sich trotz seiner Erlebnisse begeistert erinnerte an das, was wir vor langer Zeit zurückgelassen hatten.
    »Ein tolles Stück, verreck! … Das hat Aufmerksamkeit erregt, Mensch! …«
    An sich war es nicht verwunderlich, daß er sich in dieser Weise erinnerte. Die ›Schauspieltruppe‹ war seine schönste, vielleicht die einzige schöne Erinnerung an jene Schule. Die bleibendste Erinnerung, die vermutlich unvergeßlich blieb … Wie hätten wir vergessen können … Wir hatten jenes Stück zusammen geschrieben, zusammen inszeniert und gespielt. Wir hatten an dem Theaterwettbewerb der Gymnasien teilgenommen und eine Auszeichnung bekommen. Şebnem hatte den zweiten Preis in der Kategorie beste Darstellerin gewonnen. Viele Leute sagten, ihr sei großes Unrecht geschehen, denn eigentlich hätte ihr der erste Preis gebührt. Ein Kritiker schrieb in einer Zeitschrift über sie: ›Ein neuer Stern ist über unseren Bühnen aufgegangen‹ … Das war vor Jahren … Vor vielen langen Jahren … Da wußten wir noch nicht, daß wir uns derart zerstreuen, uns völlig aus den Augen verlieren würden … Sein nostalgisches Gefühl war deshalb ermutigend … Es war genau die richtige Zeit, sozusagen ›die Bombe platzen‹ zu lassen. Dieses Mal war ich kindlich aufgeregt.
    »Was sagst du dazu, wenn wir das Stück noch einmal spielen? … Mit demselben Ensemble, der ›Schauspieltruppe‹! … Wenigstens einmal noch … Mach dir keine Sorgen wegen des Geldes … Auch nicht wegen der Bühne und nicht mal wegen der Zuschauer … Ich habe an alles gedacht. Du mußt nur einverstanden sein. Denn wenn du nicht mitmachst, klappt es nicht. Wir können die Leute nur gemeinsam zusammenbringen.«
    In seinem Gesicht war jetzt nicht nur jugendliche Begeisterung, auch Freude und Überraschung. Seine Reaktion zeigte unverstellt seine Gefühle.
    »Verfickte Kiste! … Mensch, wie bist du denn da drauf gekommen? …«
    Das war schwer zu erklären. Im Moment würde er die Erklärung nicht verkraften. Natürlich würde ich einmal sagen, was zu sagen war. Ein andermal … Ich wiederholte mir die Worte. Ein andermal … Obwohl ich dieses andere Mal bisweilen in weiter Ferne sah … Deshalb freute ich mich weiter an der Freude und Überraschung in seinem Gesicht. Dieses Gefühl durfte ich nicht verlieren. Ich mußte meinem Appell Nachdruck verleihen. Damit würde ich auch mich selbst ermutigen.
    »Das ist jetzt egal … Was meinst du? … Istanbul ist mein Leben … Vielleicht ändern wir im Text ein paar Stellen, wo wir es für nötig halten … Hauptsache ist, wir fangen an …«
    Er dachte nicht lange nach. Er schlug mir auf den Rücken. Seine Antwort war das Zeichen, daß wir zumindest die ersten Schritte zusammen tun würden.
    »Wie wir damals die Leute beeindruckt haben, Mensch! …«
    Natürlich konnte ich sehen, wie gerührt er war. Auch ich

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