Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach
… Andererseits weiß ich nicht, wie erfreulich es ist, wenn deine Geschichte erzählbar wird, mit anderen Worten legal. Du darfst erzählen, denn von dir geht keine Gefahr mehr aus … Das ist eine der Möglichkeiten, die mich am meisten schmerzen … Doch du wirst sehen, sie werden letztlich unsere Stimme hören. Auf irgendeine Weise werden sie sie hören … Auch für das Spiel der Vereinfachung gibt es eine Grenze … Denn wir haben geglaubt. Wir haben an unseren Kampf geglaubt … Sicher haben wir Fehler gemacht; wir haben die Realität nicht ausreichend gesehen, und in manchen unserer Analysen haben wir uns gründlich geirrt, nun gut. An die Lösungen, die andere Genossen in anderen Ländern gefunden haben, haben wir nicht mal denken wollen, geschweige denn darüber sprechen … Doch wir haben geglaubt, verstehst du, wir haben geglaubt … Vielleicht ist es das, was wir geben können, was wir vor allem geben können, dieser Glaube … Diese Überzeugung … Wir sind noch immer da, um zu sagen, ihr habt uns trotz allem nicht töten können … Du wirst sehen, es wird welche geben, die uns verstehen, ganz sicher wird es sie geben … Es kommt eine Zeit, auch dafür kommt eine Zeit …«
Natürlich konnte ich gegen den Glauben an unseren Kampf nichts einwenden. Aber war er wirklich überzeugt von dem, was er gesagt hatte? … Oder versuchte er, sich an einer derartigen Erwartung festzuhalten, weil ihm keine andere Wahl als der Glaube blieb? … Diese Fragen konnte ich ihm nicht stellen. Jedenfalls nicht in diesem Augenblick. Ich schaute noch einmal umher und bemerkte wieder einmal, wie sehr ich den Atem meiner Stadt liebte, so wie sie dalag, in ihre Lichter gehüllt an ihren Ufern, die viele historische Epochen verbargen. Ja, das Leben ging weiter. Diese Ufer, die Menschen mit ihren Träumen, Enttäuschungen und Hoffnungen würden immer fortfahren, jemandem Geschichten zu erzählen und sie in Erinnerung zu bewahren. Jede Zeit hatte ihre Ungerechtigkeit und würde sie haben … War die Geschichte der Menschheit nicht immer zugleich auch eine Geschichte der treulosen Morde? … Ich versank in Gedanken. Dann kehrte ich an den Tisch zurück durch die Worte, die mich erneut zu unserer Freundschaft und gemeinsamen Vergangenheit riefen.
»Wie steht's mit dir? … Du hast andauernd mich reden lassen. Ich hatte wohl offenbar auch das Bedürfnis zu reden. Das hat gutgetan, danke. Wie lange schon habe ich kein so ausführliches Gespräch geführt …«
Eigentlich war ich kaum noch in der Lage zu sprechen. Das Gehörte hatte mich derart erschöpft und an unerwartete Punkte geführt … Trotzdem wußte ich, ich würde dem Erzählen nicht ausweichen können. Ich nahm mir vor, zu anderer Zeit auf die Einzelheiten einzugehen, und erzählte das, was mir zuerst einfiel, soweit ich konnte. Von meiner Zeit in London, von dem Restaurant, das ich hatte eröffnen wollen, von Kemalettin Bey, Monsieur Davit, dem Cousin Mordo, von Şevket und wie ich im Laden versucht hatte, sie ideologisch zu schulen und ihnen ein gesellschaftskritisches Bewußtsein beizubringen. Mit Necmi zusammen war ich in jenen Tagen unserer Freundschaft ein paarmal in den Laden gegangen. Ich wußte nicht, ob er sich daran erinnerte, ob er sich jene Szenen vergegenwärtigen konnte. Doch beim Zuhören lachte er sehr. Diese Seite meiner Geschichte erschien ihm wohl wie eine nette Komödie mit anrührenden Szenen. In seinem Kommentar lag jedoch weder Abwertung noch Neckerei. Seine Stimme war, anders als ich erwartet hatte, voller Liebe, als er sagte: »Gratuliere Mensch! Du bist auch einer von uns!«
Als ich in seinem Gesicht die Freundschaft und Wärme sah, erkannte ich nochmals, wie richtig ich in der Vergangenheit gehandelt hatte. Daraufhin erzählte ich kurz, mit welchen Gefühlen ich in den Laden eingetreten war, wie ich das Geschäft übernommen und ausgebaut hatte, vom Abenteuer der Heirat mit Çela, von meinen Kindern … Wieder ließ ich die Einzelheiten weg … Diese Einzelheiten und die damit verknüpften Erinnerungen gehörten in jener Nacht mir, zumindest in jener Nacht. Erwartete ich nach meinen letzten Worten von ihm eine Bestätigung, auch wenn ich wußte, daß das falsch war? … Wahrscheinlich ja. Es war unangenehm, daß ich mich von dieser Unsicherheit nicht befreien konnte, dennoch wartete ich, ja. Ich weiß jedoch nicht, ob er merkte, was ich erwartete. Womöglich merkte er es nicht. Letztlich war es nicht seine Unsicherheit. Er zeigte mir in
Weitere Kostenlose Bücher