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Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Titel: Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Levi
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auch schweigend verständigen konnten. Ich erhob mich. Er schaute weiter aufs Meer. Es war wieder, als spräche er mit jemandem irgendwo. Es gab für mich nun nur einen Weg, die Nacht langsam zu beenden.
    »Soll ich dich nach Hause fahren?«
    Er schaute weiterhin in jene Ferne. Die Wirkung des Alkohols war jetzt deutlicher an seinem Gesicht abzulesen. Er trank wirklich sehr viel, war aber ziemlich trinkfest. Er verhaspelte sich nicht, redete nicht wirr. Das Leben hatte ihn auch in seiner Beziehung zum Alkohol verändert. Ich konnte die Wirkung des Alkohols seiner Müdigkeit zuschreiben. Nicht nur der Müdigkeit dieser Nacht, sondern der Müdigkeit des verlorenen Lebens. Auch in der Antwort, die er auf mein Angebot gab, konnte man diese Müdigkeit erkennen.
    »Nein, danke. Fahr du mal … Ich sitze noch ein bißchen hier. Nachher gehe ich ein Stück zu Fuß, um klarer zu werden …«
    Als ich das hörte, sah ich keinen Anlaß, weiterzureden. Ich berührte ihn an der Schulter. Er griff ebenfalls nach meiner Hand. Wir verstanden einander. Ich ging wortlos weg, stieg in mein Auto und vermischte mich mit einer anderen Färbung der Stadt. Dieses Gefühl war wichtig. Denn alles, worüber wir gesprochen hatten, hatte uns eine Zeitlang etwas wie eine ganz andere Farbe erleben lassen. Eine andere Farbe beziehungsweise eine andere Stadt … Eine ganz andere Stadt als die, in der wir leben mußten … Wo war Şebnem in dieser Stadt? … Diese Frage wollte mir nicht aus dem Kopf. Unsere Vergangenheit vermischte sich mit den Augenblicken, die ich erlebte. Paris, Träume, Tarabya … Als ich in dieser Nacht nach Hause zurückkehrte, fiel mir eine weitere Frage ein. Hätte Necmi mir wohl von Şebnem erzählt, wenn ich nicht von der Realisierung meines Traums, der Wiederaufnahme des Stücks, gesprochen hätte? … Und wenn er das nicht getan hätte, warum? … Die Frage hätte andere Fragen hervorbringen können, bei denen wir uns an Spuren der Vergangenheit hätten erinnern können. Doch an dem Punkt hörte ich auf. Mehr würde ich nicht ertragen. Am nächsten Tag würde ich sowieso sehen, was es zu sehen gab …

Die Nacht, der Brunnen und stürmische Bilder
    Ich konnte wirklich nicht wissen, was der Tag bringen würde, zu dem ich am anderen Morgen erwachte. Ich ahnte lediglich, Necmi würde mich in eine neue, mich tief erschütternde Erzählung hineinführen. Inwieweit war ich bereit für die Şebnem in dieser Erzählung? … Was würde ich ihr sagen können, nach all dem, was ich Jahre hindurch in mir verschlossen, erlebt und aufgeschoben hatte? … Was würde sie wohl sagen? … Keine dieser Fragen konnte ich beantworten. Dabei hatte ich mir jahrelang so eine Begegnung erträumt. Ich hatte mir unser Gespräch vielmals in verschiedenen Varianten ausgedacht. Die Erwartung bezog sich freilich auf alle Spieler der ›Schauspieltruppe‹. Doch Şebnem war anders, anders als alle anderen. Das aber wußte auch nur ich. Ich allein … Denn ich hatte all die Jahre hindurch meine Gefühle mit niemandem teilen können. Die Niederlage, die ich innerlich erlebt hatte, war meine Niederlage. Die Vergangenheit war meine Vergangenheit. Und die Bilder, die Stimmen, die Worte hatten sich dermaßen ineinander verwoben …
    An jenem Morgen stand ich etwas später auf als sonst. In den Laden zu gehen, hatte ich keine Lust. Ich telefonierte, um zu erfahren, ob ich erforderlich sei. Nein. Ich schützte Unwohlsein vor und sagte, ich werde nicht kommen. Natürlich wäre dieser Vorwand nicht nötig gewesen. Ich war der Chef. Aber das Leben hatte mich wohl diese Art von Disziplin gelehrt … Dabei gab es einen sehr wichtigen Grund, die Arbeit zu schwänzen …
    Das Wetter war bedeckt. Für den Nachmittag war Regen angesagt. Woran solche Wetterlagen den Menschen nicht alles erinnerten … Im Grunde wurde unser Leben stärker als angenommen von Umständen bestimmt. Auch diese Tatsache konnte ich erkennen. Trotzdem war es nicht so leicht, sich völlig von gewissen Gefühlen zu lösen. Auf diese Weise konnte ich mir die Schwermut erklären, die mich zunehmend befiel, als ich mit dem Wagen zu unserem Treffpunkt fuhr. Im Gegensatz dazu fiel es mir nicht schwer, mir Şebnem auf einem Regenbild vorzustellen. Meine Niedergeschlagenheit resultierte freilich auch aus dem, was die Orte in mir auslösten, an denen ich vorbeifuhr. Das Restaurant Motorest in einer der Tankstellen in Beşiktaş, an das sich wahrscheinlich heute nur noch wenige Menschen erinnern, wo ich

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