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Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Titel: Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Levi
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diesem Augenblick nichts als seine liebevollen Blicke. Ich konnte diese Blicke sehen, obwohl sie hinter seiner Brille verborgen blieben. Er begnügte sich damit, mir in kurzen Sätzen ohne viel Kommentar zu sagen, daß ich recht getan und ein sehr vernünftiges Leben geführt habe … Die Kürze war freilich auch ein Kommentar. Vielleicht wollte er nicht viel reden. Er wirkte, als könnte er zu dieser Nachtstunde nicht mehr viel Gerede ertragen. Im Wesen dieser Rückschau lag Kürze, sogar ein wenig Ausweichen. Ich hatte kurz erzählt und kurze Antworten, Entgegnungen bekommen. Das war für diesen Moment das Richtige. Wir würden in anderen Nächten zu anderen Punkten gelangen.
    Dann bezahlte ich die Rechnung. Außer uns war niemand mehr im Restaurant. Wir standen auf und gingen langsam zum Ufer. Wir sprachen wieder nicht … Setzten uns auf eine Bank. Eine Weile schauten wir auf den Bosporus, das Meer. Wir schwiegen und kehrten wieder zu den Stimmen in unserem Inneren zurück. Was dachte er? … Ich fragte nicht, wem er sich in Gedanken zuwendete. Ich fragte auch nicht, warum er seine Erlebnisse nicht aufgeschrieben hatte. Ich war sicher, wenn er gewollt hätte, hätte er schreiben können, und zwar sehr gut. Ich erwog verschiedene Möglichkeiten, ob er Dinge in sich völlig abgetötet hatte, die er nicht benennen wollte, oder ob er sie gänzlich in sich begraben hatte und dort bewahren wollte. Hätte er sonst gesagt, daß Erzählen Banalisieren bedeute? … Eigenartig. Diese Worte hatte auch ein Schriftsteller in einem anderen Land gesagt, der zum Zeugen anderer Tode geworden war … Der Zufall war erstaunlich, bedenkenswert, aber auch höchst beunruhigend. Deswegen dachte ich noch einmal über die Reise der Worte nach … Das Meer erinnerte mich in diesem Augenblick aber nicht nur an diese Reise, sondern auch an meine eigenen Wege.
    »Mein Leben war nicht so farbig wie deins …«
    Ich schaute ihm ins Gesicht. Er sah müde aus, sehr müde … Die Stimme, mit der er mir antwortete, drückte diese Müdigkeit überdeutlich aus.
    »Laß mal, du … Glaubst du etwa, ich hätte mir diese Farbigkeit gewünscht?«
    Dieser Necmi war ein ganz anderer als der, der an die Richtigkeit seines Lebens glaubte, zu glauben schien. Welcher Necmi war der echte? … Welcher war mir vertrauter? … Ich versuchte noch einmal zu erklären, was ich mit Farbigkeit hatte sagen wollen …
    »Ich weiß nicht … Von hier sieht es so aus … Ich habe mich wohl dafür entschieden, nicht soviel zu kämpfen. Das hat aber auch seinen Preis …«
    Er nickte. Als wollte er damit andeuten, daß er mich verstanden hatte, meine Gefühle teilte … Seine Antwort zog mich in eine andere Richtung. In dem Augenblick verstand ich besser, daß der Schmerz, den er auszudrücken versuchte, für ihn zu einer fixen Idee geworden war.
    »Du hast wenigstens geheiratet, eine Familie gegründet. Du hast eine Frau und Kinder. Du kannst sagen, wohin du am Morgen gehst, wohin du am Abend zurückkehrst. Das solltest du wertschätzen …«
    Meine Lebensumstände wertschätzen … Hätte er wohl diese Worte so leicht dahingesagt, wenn er gewußt hätte, daß gerade hier die Geschichte begann, die der Grund dafür war, daß ich sie alle sehen wollte? … Ich würde ihn ganz sicher mit dieser Tatsache konfrontieren. Ich konnte das Spiel nicht so weiterführen, ohne ihm von dieser Katastrophe zu erzählen. Doch auch das hatte seine Zeit. In dem Moment konnte ich ihm höchstens zu sagen versuchen, daß jeder von seiner Warte aus unterschiedliche Aspekte sah. Das war der Grund, weshalb ich ihm mit einer Frage antwortete.
    »Findest du? …«
    Ich wollte, daß er den in der Frage liegenden Einwand sah und auch die Provokation. Doch auch er bestand darauf, sich an seinem Gefühl festzuhalten, es sogar zu verteidigen. Seine Antwort war kurz, schlicht, doch seine Stimme kam aus tiefstem Inneren.
    »Ja, das finde ich … Glaub mir, genau so ist es …«
    Diese Haltung war eindrucksvoll. Zweifellos verdiente diese Stimme berechtigterweise Gehör. Trotzdem war ich ein wenig enttäuscht, warum er mich nicht fragte, weshalb ich zu dieser Nachtzeit nicht lieber zu Hause saß. Das bedeutete, auch er war partiell blind und taub … Mußte ich so denken? … Was weiß ich? … Schließlich fühlte ich eine gewisse Unterlegenheit angesichts dessen, was ich gehört hatte. Es war mir bewußt, daß ich mir unrecht tat. Doch ich konnte mich nicht von diesem Gefühl der Unterlegenheit, ja sogar

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