Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach
der Hand hatten, sich jetzt selbst sehen, wenn sie, wie ein jeder von uns, im Pyjama nachts oder in der Frühe vor dem Spiegel stehen. Welche Antwort sie sich geben, wenn sie sich fragen, sofern sie sich überhaupt fragen können, was sie in Wirklichkeit getan haben, wie sie gelebt haben? … Was sehen sie im Spiegel, wen sehen sie, nachdem sie unter so viele Todesurteile ihre Unterschrift gesetzt haben, nachdem bekannt wurde, wie viele zu Tode gefoltert wurden, daß Tausende in die Verbannung geschickt wurden, ihnen die Staatsangehörigkeit aberkannt wurde? … Du weißt doch, es wurden sogar welche an den Galgen gebracht, nachdem ihr Alter in den Papieren heraufgesetzt worden war 9 … Wie du siehst, ist die Antwort keineswegs ideologisch, sondern höchst menschlich, einfach, doch meiner Ansicht nach unsagbar schwer …«
Bei diesen Worten konnte ich das, was ich unbedingt sagen wollte, nicht zurückhalten.
»Vielleicht war das Spiel größer, als wir gedacht, ja sogar erträumt hatten. Ist es deiner Meinung nach denn Zufall, daß die Ereignisse hier denen in Argentinien, Brasilien, Chile und Griechenland so sehr ähnelten? … Wenn ich dies bedenke, dann glaube ich, daß wir in diesem Land etwas nicht ausreichend durchlebt haben. Was sagst du dazu, daß gegen diejenigen, die dieses Böse getan haben, noch kein Gerichtsverfahren eröffnet wurde? … Als gäbe es eine geheime Vereinbarung. Mehrere zivile Regierungen hat es gegeben. Was haben diese getan? … Es hat darunter sogar welche gegeben, die im Wahlkampf Stimmen gewonnen haben, indem sie den Putsch verurteilten. Als hätten sie sich zum Schweigen verpflichtet, um an dem Platz zu bleiben, an den sie gelangt waren. Die Gewissen sind noch immer nicht geläutert. Zweifellos werden auch Gerichtsurteile die von uns ersehnte Befreiung nicht wirklich bringen. So naiv bin ich nicht. Trotzdem glaube ich, und zwar aus ganzer Seele, daß dieser Schritt notwendigerweise erfolgen muß. Damit wir in diesem Land eine ehrenvollere Geschichte schreiben können …«
Er neigte bei meinen Worten den Kopf vor. Dann fixierte er einen fernen Punkt.
»Wir müssen zuallererst lernen, die Putschisten und die Folterer in unserer inneren Welt mit unseren Gefühlen zu richten und zu verurteilen … Andererseits möchte ich inzwischen nicht so oft in jene Tage zurückkehren. Es ist schwer, sehr schwer, dir zu vermitteln, was ich fühle … Es hat lange gedauert, bis ich mich von einigen Alpträumen befreit habe. Ich kann dir auch nicht sagen, warum die Wunde sich immer noch nicht geschlossen hat. Was du denkst, ist gut. Doch das sind sehr subjektive Gedanken. Wenn ich dir sagen würde, daß die Realität ganz anders ist? … Schau mal, wir haben alle unser Leben recht und schlecht aufgebaut. Es war nicht einfach, aus der Finsternis herauszukommen. Mit dem Verlust fertig zu werden, mit allem, was wir verloren haben, sogar mit unserer Scham, über die wir nicht sprechen können … Doch nun … Nehmen wir mal an, es würde ein Gerichtsverfahren eröffnet, wie du sagst. Wer wird deiner Meinung nach wohl als Zeuge aussagen? … Vielleicht wollen manche nicht erzählen, wie ihre Vergangenheit aussieht. Du sagst, diese Männer sollen verurteilt werden … Soll man deiner Ansicht nach vor einem ordnungsgemäß aufgestellten Gericht nur sie verurteilen? … Was ist mit denen, die geschwiegen haben? … Ist Schweigen nicht Mittäterschaft? … Die Zeugen waren ja nicht nur Opfer … Kann deiner Ansicht nach dieses Land solch eine Auseinandersetzung aushalten? … Sind wir nicht heute in dieser Lage, weil wir uns mit unserer Trauer nicht auseinandergesetzt haben? …«
Hatte er recht? … Ich hatte über diese Seite der Angelegenheit nicht nachgedacht. Ich erhob meine Stimme nicht. Auch er schwieg kurze Zeit. Dann wurde er wieder lebhafter:
»Eines Tages werden über unsere Erlebnisse Filme gedreht werden, und andere Romane werden zu denen, die es schon gibt, hinzukommen … Manche werden auf diese Weise vielleicht ihr Gewissen zu reinigen versuchen. Das System muß sich selbst reinigen. Erzählen bedeutet nämlich gleichzeitig auch vereinfachen, banalisieren und die Schmerzen, die Tode, die Scham leichter erträglich machen. Doch die wirklichen Katastrophen kann man nicht so leicht zur Sprache bringen, man kann sie nicht erzählen … Es gibt sicher welche, die ihre Geschichte jemandem mitteilen, um so zu überleben. Ein jeder hat seine eigene Art der Selbstprüfung, der Auseinandersetzung
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