Wo wir uns finden
klingelt weiter. Er hofft, es hört auf, bevor er es erreicht. Dann nimmt er ab, und der Rechtspfleger vom Amtsgericht in Friedberg teilt ihm mit, dass er die Schätzung des Gutachters der Bank als Grundlage übernehme, den Verkehrswert des Gebäudes natürlich aber erst nach der morgigen Anhörung festlegen werde, an die er meinen Vater noch mal erinnern möchte.
Alles klar, sagt mein Vater.
Der Gutachter Grams wird auch da sein, sagt der Rechtspfleger.
Frank Grams? fragt mein Vater, und nach einer Pause antwortet der Rechtspfleger: Harald Grams.
Harald Grams, sagt mein Vater und denkt: nicht Frank Grams, aber wer weiß – während der Rechtspfleger weiterspricht: Nach der Festsetzung des Verkehrswerts werde ich den Versteigerungstermin festlegen, ist Ihnen das bewusst?
Tun Sie das, sagt mein Vater.
Keine Sorge, sagt der Rechtspfleger und legt auf.
Harald Grams, denkt mein Vater wieder: nicht Frank Grams, und tritt auf die Terrasse. Wie zwei Figuren eines Märchens aus der Kindheit hat er Frank Grams und Karl Klobedanz – Grams und Klobbe – immer im Gedächtnis behalten, ohne an sie zu denken. Er spürt sein Herz schlagen in der Brust und versucht ruhig zu atmen. Dass er den Nistkasten sauber machen wollte seit Wochen schon, dass er das jetzt unbedingt machen muss, bevor ihm bald das Haus nicht mehr gehört, damit wenigstens im nächsten Jahr darin genistet werden kann – wer weiß, was für Leute hier einziehen. Er holt die Leiter aus dem Schuppen, lehnt sie an die Hauswand und steigt hinauf. Er löst die vordere Klappe des Kastens, Ungeziefer springt aus der Wolle und dem Heu. Er räumt den Kasten aus und lässt alles zu Boden fallen, dazwischen Knochen eines Kükens, der erdnussgroße Schädel schwebt zur Erde und kullert über die Terrasse. Dass es noch so viel zu tun gebe im Haus, denkt er und geht zum Schuppen, den er auch noch ausmisten will, drinnen riecht es, als sei ein Tier verendet in einer der Ecken unter den über Jahrzehnte angehäuften Schichten aus Nützlichem, das er für Haus und Garten angeschafft und nie gebraucht hat. Er zerrt den Rasenmäher aus dem Schuppen und betrachtet die Rückseite seines Zuhauses, denkt an meine Mutter, wie er sie das erste Mal sah und nie mehr wegwollte, nicht mehr träumte von Chevrolets auf amerikanischen Highways mit Elvis im Radio, Segelschiffen in der Südsee – wovon er sich verboten hat zu träumen, weil seine Mutter in den Träumen keinen Platz hatte. Er erinnert sich an das Gefühl, als er den Kaufvertrag beim Notar unterschrieb, wie er mit meiner Mutter danach durch den Ort fuhr mit dem Gefühl, verbunden zu sein mit etwas, als habe man ihm ein Gummiband in den Rücken transplantiert, das festgemacht ist am Haus.
Durch den Spalt des gekippten Küchenfensters hört mein Vater Radiomusik aus dem Nachbargarten. Er kocht Kaffee, während die Musik endet und das Nachrichtensignal ertönt. Den Rest des Tages sitzt er am Küchentisch, alle halbe Stunde die drei lang gezogenen Töne aus dem Radio, er wartet – das Gebrabbel des Sprechers versteht er nicht –, bis die Musik wieder einsetzt. Er fragt sich, ob Harald und Frank Grams miteinander verwandt sind. Später wird er einen Wagen die Straße entlangkommen sehen, der dem von Theresa gleicht. Der SUV wird vorbeifahren, eine andere Frau sitzt am Steuer. Theresa, wird er sagen und einen Lassiter-Roman aus dem Schrank nehmen und versuchen, sich darauf zu konzentrieren. Dem Barmädchen, dem Lassiter begegnet, wird er Theresas Gesicht und Körper und Stimme geben, er wird sich wünschen, dass Lassiter und das Barmädchen miteinander schlafen, dass sie zusammenbleiben für den Rest der Episode oder länger, dass er sie sehen kann, wie sie lacht, wie sie weint, wie sie stöhnt, wie der Pigmentfleck in ihrer Iris dunkler wird, ist sie wütend, wie sie atmet im Schlaf und einen Namen flüstert. Aber er weiß, eine Gangsterbande wird kommen mit zwei Langhaarigen, die Lassiter das Barmädchen wegnehmen, sie schänden, sie umbringen werden. Und er wartet nur darauf, dass sie bei ihm klingeln, was sie nicht müssen, weil Grams noch den Schlüssel haben muss.
Der Transporter, der vor dem Haus hält, weckt meinen Vater, die Packen mit den Zeitungen klatschen vor der Tür auf. Er bleibt liegen, hofft auf Regen, der die Zeitungen zu einem festen Klumpen zusammenpappen lässt. In der Stille, nachdem der Transporter davongefahren ist, hört er eine Stimme im Stimmbruch, die auf jemanden einredet, jemanden beruhigen
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