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Wo wir uns finden

Wo wir uns finden

Titel: Wo wir uns finden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Findeis
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die Tüte mit den Einkäufen abstellt, sich auf seinen Stuhl in der Küche setzt und die Augen schließt. Hunderttausend Euro für dreißig Jahre, denkt er und versucht auszurechnen, wie viel das für ein Jahr ist, für einen Monat, für eine Woche, für einen Tag, und schafft es nicht. Hunderttausend Euro ist das hier alles wert, denkt er, noch für drei Monate, zwölf Wochen. Dann ist der Versteigerungstermin.
    Auf dem Küchentisch liegt der Werbeprospekt, auf dem ihm Theresa ihre Nummer notiert hat am Morgen, neben der Vase mit ihrem Strauß. Falls er sie besuchen wolle und den Garten sehen, sagte sie und strich sich eine Strähne hinters Ohr.
    Bis zum Abend betrachtet er immer wieder den Werbeprospekt mit ihrer Mobilnummer, riecht an den Blüten und kann sich die Beete vorstellen, die er angelegt hat – irgendwann setzt die Dämmerung ein, und er verwechselt auf den ersten Blick vereinzelte Fledermäuse mit Schwalben, das Zwitschern eines Zeisigs ist zu hören in der Ferne.
    Mein Vater steht nicht auf am nächsten Morgen. Aus Gewohnheit ist er aufgewacht, als ihm die Zeitungen vor die Tür gestapelt werden. Er hört den Transporter des Kuriers davonfahren und dreht sich auf die Seite. Die Wärme von Theresas Körper spürt er neben sich im Bett; wenn er die Luft anhält, hört er ihren Atem, der in der frühen Stille zur Verheißung wird, in ihren schlanken Armen hat sie mehr Kraft, als er erwartet hat. Sie ist nur zehn Jahre älter als ich, er könnte ihr Vater sein. Und er schämt sich für sein Verlangen, weil Theresa Frau und Geliebte wird. Wenn Siggi zurückkommt, sind wir eine Familie, flüstert er ihr zu und sieht an die Decke, wo das frühe Licht der Dämmerung als Keil durch den Spalt der Vorhänge fällt. Er schließt die Augen. Eine unabsichtliche Berührung im Badezimmer, Tellerklappern aus der Küche, Schritte auf der Treppe – damit schläft er wieder ein. Die Stimmen aus dem Erdgeschoss vernimmt er nur leise, als stünden sie vor der Tür, als kämen sie heute nicht ins Haus.
    Er geht nicht ans Telefon. Innerhalb von zehn Minuten wird dreimal angerufen, beim vierten Mal erst springt der Anrufbeantworter an, er hört der Person zu, die auf den AB spricht mit einer blechernen Stimme, was mit den Zeitungen sei, und ihn auffordert, sich zu melden. Zwölf Wochen! denkt er und kocht sich Kaffee. Aber noch vor Mittag ruft er die Zustellagentur zurück und entschuldigt sich bei der Bezirksleiterin. Während er geduckt durch die Straßen rennt, Zeitungen, auf denen die Abdrücke seiner feuchten Hände eintrocknen, in Briefschlitze und Boxen stopft, sagt er Theresas Nummer auf wie ein Mantra. Dabei weiß er, er wird sie nicht anrufen. Er müsste ihr dann sagen, warum er sie anruft, dass er ihren Garten gar nicht sehen will, dass er am Abend zuvor den Tisch gern für zwei gedeckt und Kerzen angezündet hätte, dass er im Keller nach dem schönen verchromten Aschbecher suchen wollte, damit sie rauchen könne bei ihm im Haus. Er könnte ihr sagen, dass er einen Sohn habe, dessen Mutter an einer Uterusatonie bei seiner Geburt gestorben sei – niemandes Schuld. Die Hilfe kam zu spät, mehr nicht. Vielleicht würde sie nur sagen, dass es ihr leidtue; vielleicht aber würde sie mehr wissen wollen über die Umstände.
    Er träumt in den Nächten den immer gleichen Traum. Nur langsam kommt er vorwärts im tiefen Boden einer scheinbar unendlichen Ebene, die plötzlich ausgebrannt und staubig, grau und verlassen ist. Meine Mutter begleitet ihn, aber er kann sie nicht sehen. Sie geht hinter ihm, und egal, wie er sich dreht, er bekommt sie nicht zu Gesicht. Er hat Angst, weiß aber nicht, wovor. Irgendwann im Traum ist meine Mutter verschwunden, das weiß er, obwohl immer noch eine Person in seinem Rücken geht. Er will fragen, wer ihn da verfolgt, kann den Mund aber nicht öffnen. Er kämpft lange mit einem Schrei, und wenn ihm ein Laut gelingt, wacht er auf. Er liegt dann im Dunkeln, die soeben hervorgepressten Geräusche noch im Ohr, als könnten diese den Raum nicht verlassen. Die Angst aus dem Traum verschwindet nicht, er zieht sich die Decke über den Kopf und ist sicher, schwere Schritte auf der Treppe zu hören, sosehr er sich auch überzeugen will, dass das nicht sein kann. Manchmal schläft er wieder ein, die Arme um das Kopfkissen geschlungen, manchmal bringt der Transporter des Zeitungslieferanten ihm Erlösung, das Tuckern des Motors im Leerlauf löst die Gestalten der Nacht auf und gibt das Haus wieder

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