Wo wir uns finden
frei. In den schlaflosen Stunden nach dem Traum nimmt er sich vor, am nächsten Morgen die Wohnungsanzeigen durchzugehen, bevor er die Zeitungen austrägt, anzurufen bei den Vermietern am Vormittag noch und Termine auszumachen, zu denen er dann auch hingeht. Mit der Zunge befühlt er den Stumpf in seinem Mund, wo ihm die Krone abgegangen ist, die in der Klammer an seiner Prothese steckt – und die Sorge um den Rest des Zahnes, der sich seltsam weich und pelzig anfühlt, lässt ihn sich selbst schwören, einen Termin bei seinem Zahnarzt auszumachen. Wenn er es schafft, sich vorzustellen, wie er in einer kleinen, sauberen, hellen Wohnung lebt mit einem neuen Gebiss und ohne Schulden, kann er einschlafen – in dieser Vorstellung kommt ihn Theresa besuchen, er hat ihr alles von sich und mir und meiner Mutter erzählt, sie bringt ihren Hund mit, der auf dem Boden tobt, während sie über den Verkäufer aus der Spielwarenabteilung im Kaufhaus sprechen, der heimlich in Theresa verliebt ist, oder sie ihm von den Fehlern ihres Mannes erzählt.
Um fünf am Morgen ist mein Vater mit den Zeitungen losgegangen, hat sich danach auf dem Sofa im Wohnzimmer nochmals hingelegt und gedöst. Meine Großmutter war im Haus und hat aufgeräumt. Er hat ihr gesagt, sie solle das lassen, sich gleichzeitig aber gefreut, dass sie sich um ihn kümmert, auch weil er weiß, Grams und Klobbe trauen sich nicht hierher, ist sie da. Sie verlässt ihn nicht. Am schmalen, staubigen Spalt zwischen Regal und Wohnzimmerschrank bleibt sie stehen und verschwindet in der Dunkelheit darin. Ob sie am Abend, in der Nacht wiederkomme, fragt er, aber sie antwortet nicht, und er denkt daran, wie meine Mutter hier auf dem Sofa lag, als sie schwanger war mit mir, wie er auf dem Heimweg von der Arbeit bei jeder roten Ampel ungeduldig wurde; auch wenn das halbe Haus eine Ruine war, es nach Schutt, Putz und Zement roch wie auf einer Baustelle. Seine Mutter hatte an der Tür der kleinen Wohnung, die sie gemeinsam bewohnt hatten, alle Riegel vorgelegt am Abend und die Rollläden herabgelassen; hier prüfte er nur, ob die Tür ins Schloss geworfen war, meine Mutter schlief schon, und er blickte noch in die dunklen Zimmer und hatte ein Bild im Kopf von einer Zukunft mit mir und ihr.
Mein Vater schreckt auf, sieht sich im Wohnzimmer um und zieht seine Schuhe an, die neben dem Sofa stehen, und verlässt das Haus. Die Haare kleben ihm an einer Seite am Kopf, an der anderen stehen sie ihm ab, sein Hemd hat Schweißränder unter den Achseln, er läuft in die Stadt ins Kaufhaus, nimmt auf der Rolltreppe zwei Stufen auf einmal, das blecherne Geräusch seiner Schritte auf den geriffelten Stufen, bis er in der Spielzeugabteilung angekommen ist, wo er nach dem Verkäufer Ausschau hält, ihn aber nicht finden kann. Er will ihm verraten, dass Theresa keine Tochter hat, nur ein leeres Kinderzimmer, das sie vollstopft mit den Spielsachen, die sie hier kauft. Als ein Mann in Anzug und Krawatte und einem Namensschild am Revers auf ihn zukommt, geht er schnell aus der Abteilung, stürzt fasst die Treppen hinab und läuft aus dem Kaufhaus. Er fühlt sich beobachtet, er wird beobachtet. Reiß dich zusammen, sagt er sich, als er durch die Fußgängerzone geht Richtung Bahnhof, wo Theresas SUV auf dem Parkplatz steht. Mit den Händen schirmt er die Augen ab und sieht ins Innere des Wagens. Auf dem Beifahrersitz liegt eine Packung Papiertaschentücher, ein Lippenstift in der Ablage zwischen Handbremse und Schalthebel. Dass er seinen Wagen auch immer so ordentlich und sauber hatte, denkt er und geht.
Das Klingeln der Türglocke hört er kaum über dem Geräusch der Kaffeemaschine, die heißes Wasser auf das Pulver im Filter spuckt. Langsam geht er durch den Flur, erkennt am verschwommenen Bunt hinter der Reliefscheibe, dass es Theresa ist, und öffnet die Tür.
Kommen Sie, sagt sie: ich hab was für Sie.
Ich hab Kaffee aufgesetzt, sagt er und zeigt mit dem Daumen über seine Schulter ins Haus.
Nur zum Wagen, sagt sie und deutet auf die andere Straßenseite, wo ihr SUV steht. Er ahnt ihren Körper unter dem wehenden Kleid und folgt ihr und blickt durch die Seitenscheibe des Wagens auf die Rückbank, wo zwei Welpen in einem Korb schlafen, einer hat das Ohr des anderen im Maul.
Einer ist für Sie, sagt sie: es sind Geschwister, die Letzten aus dem Wurf – so sind sie nicht getrennt, wenn ich Ihnen einen gebe und Sie besuchen komme.
Mein Vater betrachtet die Welpen: Was soll ich mit dem?
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