Wo wir uns finden
der Stromzähler machte Platz für das gleichmäßige Dröhnen der Stille, dann war er doch immer eingeschlafen.
Jetzt betrachtete er Grams, der sich eine Zigarette anbrannte und lächelte, nachdem er sich die Haare hinters Ohr gesteckt hatte und auf die Uhr gesehen.
Grüß deine Eltern, sagte seine Mutter.
Sie standen auf dem Gehweg vor dem Haus, und Karls Mutter lehnte im Fenster. Sie trug noch die Kittelschürze, die sie zum Putzen anzog. Sie lächelte und rieb sich ihre wunden Hände mit Creme ein. Ihre Augen waren geschwollen.
Und benimm dich, sagte sie zu Karl.
Da pass ich schon auf, sagte Grams.
Grüß deine Eltern, sagte sie wieder.
Tief hängende Wolken zogen am Himmel dahin, ein früher Mond leuchtete, Wind blies die ersten welken Blätter über die Straßen und Gehwege. Karl konnte sich nicht vorstellen, wie das Abendessen bei den Grams ablaufen würde, dachte an Porzellan und Kristall, Silberbesteck, wie er es aus dem Fernsehen kannte. Dass es viel besser sein musste als bei ihm zu Hause, wusste er. Nur die Villa hatte er sich prächtiger vorgestellt. Der Marmor wirkte stumpf, der Außenputz bröckelte an manchen Stellen, war verwittert, grau und braun verfärbt, der Flur war unordentlich, und im Haus roch es wie in einem vollgestopften Kleiderschrank, als müsste ausgemistet und gelüftet werden. Er folgte Grams über die Treppe in die erste Etage. Sie begegneten niemandem. Grams’ Zimmer wirkte größer als die gesamte Wohnung von Karls Eltern. Dass man hier Federball spielen könne, dachte er und betrachtete die hohe, bis unter den Dachfirst gewölbte Zimmerdecke.
Wann esst ihr denn? fragte Karl, nachdem sie sich auf ein Sofa gesetzt hatten, das mitten im Zimmer mit dem Rücken zur Tür stand.
Grams drehte sich eine Zigarette und hob die Schultern: Wann wir wollen, sagte er.
Und wo ist Anna? fragte Karl.
Unten, sagte Grams, stand auf, ging zu einem Einbauschrank mit Schiebetüren und griff einen Kasten Bier heraus, setzte sich wieder und stellte die Füße darauf ab. Er öffnete zwei Flaschen und gab eine an Karl, der Angst hatte vor Grams’ Eltern, vor den Zwillingen, von denen Grams immer als den Babys sprach, die aber schon zehn Jahre alt waren. Er erwartete, dass gleich jemand ins Zimmer kam und Fragen stellte oder eine Begrüßung wünschte, und Karl wollte nicht, dass er dann mit einem Bier hier saß, aber traute sich nicht, die Flasche abzulehnen, und nahm einen großen Schluck, um sie schnell auszutrinken. Grams hatte eine Platte aufgelegt, im Zimmer war es fast dunkel, nur die Schreibtischlampe brannte, Zigarettenrauch schwebte in ihrem Schein. Die Musik war laut, Grams bewegte den Kopf im Takt, sang den Refrain mit: You better watch out and hold on tight / We’re heading your way like dynamite / Delivering the goods / Delivering the goods … Karl blickte über seine Schulter, die Tür hinter seinem Rücken gab ihm das Gefühl, beobachtet zu werden. Er wollte nach Hause. Er musste aufs Klo, aber traute sich nicht aus dem Zimmer. Grams saß weit zurückgelehnt im Sofa mit geschlossenen Augen und bewegte die Lippen zum Gesang und nahm sich die nächste Flasche aus dem Kasten, öffnete sie und trank.
Dreh mal die Platte um, sagte er, als die erste Seite zu Ende war und die Nadel in der Auslaufrille schabte, und Karl stand auf und ging zum Plattenspieler: Überspiel die mir mal, sagte er und setzte sich wieder. Grams antwortete nicht, nahm den nächsten Schluck, behielt die Flaschenöffnung an seiner Unterlippe, als atmete er aus ihr – bis er sie geleert hatte und sich die nächste aus dem Kasten griff.
Nach dem fünften Bier stand Grams auf und bedeutete Karl, ihm zu folgen. Grams schwankte, und Karl überlegte, einfach zu gehen. Im Flur brannte jetzt Licht, er hörte Stimmen einer Radiosendung aus dem Erdgeschoss. Am Ende der Treppe blieb er stehen und betrachtete die Wohnungstür, durch deren Sicherheitsglas die Lichtkegel eines vorbeifahrenden Autos zogen, und legte die Hand an die Klinke. Grams drehte sich zu ihm.
Was ist? fragte er.
Nix, sagte Karl.
Dann komm, sagte Grams und trat aus dem Flur in die Küche, in der jemand mit Geschirr klapperte.
Hast du schon wieder gesoffen? sagte eine Frau und lachte: du stinkst wie eine Kneipe.
Begrab meine Leber an der Biegung der Theke, sagte Grams.
Karl folgte ihm in die Küche. Die Frau stand am Spülstein und bemerkte ihn nicht. Sie war klein und schmal, älter als Grams. Er betrachtete die Muttermale auf der hellen Haut
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