Wo wir uns finden
sie hatten Karl trotz des Aufnähers nie beachtet. Vielleicht weil er das Gymnasium besuchte auf der gegenüberliegenden Straßenseite oder weil er der Sohn des Hausmeisters war, der mit einer lächerlichen Ernsthaftigkeit Glühbirnen wechselte, den Hof fegte und in den Pausen Wurstwecken verkaufte in der kleinen Kantine der Berufsschule. Den sie Käs-Klobedanz nannten, weil er nur Käse und keine Wurst aß zum Vesper, wie die einen behaupteten, weil er wie alter Käse stank, wie die anderen meinten. Über den auch Karls Mitschüler lachten, sahen sie ihn vom Klassenzimmer aus gegenüber die Mülleimer leeren, und dann sagten: Klobbe, deine Zukunft!
Außer ihm und Grams war niemand auf dem Rathausplatz. Eine alte Frau kreuzte den Platz, ein leeres Einkaufsnetz baumelte von ihrem Handgelenk. Grams legte den Kopf in den Nacken und blies Rauch in die Luft. Es war Viertel vor elf. Als Karl gesehen hatte, dass Grams in der Pause vom Schulhof ging, war er ihm gefolgt. Er hatte nicht nachgedacht, sich nicht gefragt, wohin er wollte. Es war ihm nicht egal gewesen, er wollte einfach mit. Karl schwänzte zum ersten Mal den Unterricht, und er dachte, dass er jetzt, während die Wichtigtuer der Klasse mit der Morawetz diskutierten über den Nato-Doppelbeschluss und er hier saß und Grams nur dreißig Meter entfernt von ihm, er endlich zu den fertigen Typen gehöre. Wie die Klassenkameraden jetzt über ihn dachten, wie sie über ihn sprachen, ging er an ihnen vorbei und aus dem Klassenzimmer.
Grams trug über der Jeanskutte eine braune Wildlederjacke mit Fransen, die er nicht zuknöpfte, und trotzdem schien er nie zu frieren. Die langen Haare hingen ihm ins Gesicht, wie eine Pergola zog er sie zur Seite und steckte sie hinters Ohr, brannte er sich eine Zigarette an, fließend, als sei es eine einzige, einstudierte Bewegung. Er war blass. Seine Augen lagen tief in den Höhlen.
Mit dem Zeigefinger verschloss Grams ein Nasenloch, schnäuzte aus dem anderen Rotz auf den Boden und wischte sich die Hand an der Hose ab. Dann stand er auf und ging; und Karl folgte ihm nicht, faltete sich noch eine Zigarette, die ihm diesmal besser gelang, und brannte sie an.
Er dachte an die Morawetz, die am Ende der Stunde die Klasse fragen würde, ob jemand eine Ahnung habe, was mit Karl sei. Karls Mutter putzte bei ihr. Sie bezahlte ihr mehr, als sie musste, und legte ihr Karls Klassenarbeiten vor und fragte: Was er denn gemacht habe? Warum er nicht gelernt habe? hatte er eine schlechte Note geschrieben. Die Morawetz hatte ihn auch damals in der Pause angesprochen, als er begann, sich den Keller herzurichten, und den Eltern gesagt hatte, er werde dort einziehen. Dass er doch nicht in einem Kellerverschlag mit einem winzigen Fenster schlafen könne, hatte sie gesagt: Denk an deinen Schlaf – da bekommst du doch nicht genug Sauerstoff!
Wenn ich meinem Bruder die halbe Nacht beim Wichsen zuhören muss, kann ich auch nicht schlafen, hatte er ihr antworten wollen, aber doch wieder geschwiegen.
Karl nahm den Umweg am Hang entlang, damit er von hinten an seinen Wohnblock kam, und ging gleich in den Keller. Er löste das Vorhängeschloss und hängte es von innen wieder ein. Auf dem Boden lag ein Poster aus der Bravo . Karl betrachtete Peter Criss, Gene Simmons, Ace Frehley und Paul Stanley von Kiss, die geschminkt in die Kamera blickten. Immer wieder fand er ein Bravo -Poster, das ihm unter der Tür durchgeschoben worden war. Er hoffte, dass sie von Susanne aus dem dritten Stock waren. Ihre Mutter hatte seiner Mutter erzählt, dass Susanne jetzt einen BH trage. Karl stellte sich ihre spitzen, cremigen Titten vor und bekam einen Ständer. Er biss sich auf die Unterlippe. Er schaute zur Matratze, unter der er die Pornohefte versteckt hielt, die er seinem Bruder geklaut hatte. Der hatte längst den Überblick über seine Sammlung verloren. Karl verlieh die Hefte für fünfzig Pfennig die Woche an Jungs aus der Nachbarschaft. Für verklebte Seiten mussten sie ihm zwei Mark bezahlen. Wollten sie ein Heft, kamen sie zu ihm in den Keller, suchten sich eins aus und gingen. Der Müller mit den sechs Geschwistern aus dem Nachbarhaus hatte gleich hier im Keller angefangen zu wichsen, und Karl hatte ihm dabei zugesehen. Es hatte ewig gedauert und gewirkt, als strenge es ihn mehr an, als dass es ihm Befriedigung verschaffe.
Hundert Mark hatte Karl so gespart. Keulen-Klobbe nannten ihn manche, dass er selbst fast nie die Hefte anschaute, wussten sie nicht.
Wenn
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