Wo wir uns finden
sollte, sagte er und lachte und zeigte auf Karls lange Haare: könnten Sie und Frank ja gemeinsam an ein Mädcheninternat.
Karl stand allein neben dem Buffet und beobachtete Anna, die mit einem Tablett voll Sektgläser von Gast zu Gast ging. Sie trug ein schwarzes, tief ausgeschnittenes Kleid. Wenn sie lächelte, blitzte ein krummer Schneidezahn zwischen ihren Lippen hervor – sie winkte ihm zu, als sie seinen Blick bemerkte. Er wurde rot und sah auf den Boden. Grams war nicht da. Die Couchgarnitur und der Fernseher waren verschwunden, stattdessen waren vor dem Flügel Stühle aufgereiht worden. Karl erkannte den Bürgermeister von Gefrieß, den Metallbau-Fetsch aus Friedberg, bei dem sein Bruder ein Praktikum gemacht hatte, und den Rektor seiner Schule. Er drehte sich um und blickte durch den Flur zur Treppe, die zu Grams’ Zimmer führte. Er wollte noch ein Glas Sekt, konnte aber Anna mit dem Tablett nirgends mehr sehen. Auf der Einladung stand geschrieben, dass ein Trio für Kammermusik Bach gebe. Dass Anna im Trio das Cello spiele, hatte ihm Grams gesagt. Karl setzte sich in die hinterste Reihe und wartete. Dass er der Einzige war, der saß, fiel ihm auf, er hoffte, dass die Musik bald beginne, wollte eine rauchen, traute sich aber nicht, auf die Terrasse zu gehen, wo ein Stehtisch stand mit einem Aschbecher darauf, der sauber war und unbenutzt. Er biss sich die Haut von der Unterlippe und sah in den Garten hinaus, während sich die Stühle um ihn herum langsam füllten. Auf dem von Hecken eingefassten Rasenstück hackte eine Krähe mit dem Schnabel in die Erde und warf etwas in die Luft, das wie ein kleines schwarzes Säckchen aussah. Erst auf den zweiten Blick erkannte Karl, dass es ein Tier sein musste, vier winzige Klauen versuchten verzweifelt, sich am Nichts festzukrallen. Die Krähe hieb auf den Maulwurf ein und zog einen langen roten Faden aus ihm heraus. Als eine weitere Krähe im Garten landete und sich mit der ersten stritt, setzte die Musik ein. Karl spürte das Cello mehr, als dass er es hörte, die Härchen an seinen Armen stellten sich auf, er schluckte. Anna führte den Bogen über die Seiten, an ihrem linken Arm traten feine Muskeln und Sehnen hervor, und Karl dachte, er habe noch nie einen Arm gesehen, den er schön gefunden habe, bis jetzt. Über den Fußboden übertrugen sich die Vibrationen des Instruments. Er schloss die Augen, ein Gefühl in seinem Bauch, als fiele er. Er wollte bleiben, die Frau mit hochtoupierten Haaren im Sitz neben ihm störte ihn nicht mehr. Drei Krähen stritten sich jetzt im Garten um den Kadaver. Karl bekam Sehnsucht nach etwas, das er nicht kannte. Es war immer nur dieser eine Ton, während die Vögel im Garten in einem Tanz geräuschlos um ihr Opfer flatterten und Grams im Durchgang zum Flur stand und Anna anstarrte; die blickte in ihre Noten und presste die Lippen zu einem Strich. Grams sprach leise vor sich hin, als bete er, dann drehte er sich weg und ging. Die Krähen waren aus dem Garten verschwunden, vom Maulwurf war nichts übrig, die Musik war zu Ende.
Der Applaus dauerte lange, die Musiker verbeugten sich mehrmals, die helle Haut von Annas Brustansatz glänzte, den bitteren Geschmack ihres Schweißes stellte sich Karl vor, wie er auf ihr lag und an ihren Nippeln leckte, die feucht waren und heiß.
Karl fand Grams in seinem Zimmer am Fenster stehen. Er trank aus einer Flasche Sekt und spuckte aus dem Fenster: Nicht so schlecht, das Zeug, sagte er.
Ob er sich die Musik nicht ganz habe anhören wollen, fragte Karl: wenn Anna da mitspielt.
Grams antwortete: Der Dix kommt sie abholen nachher.
Karl hob die Schultern, blieb stehen im Raum und betrachtete den Freund im Gegenlicht. Am Horizont rasten drei Punkte, die parallele Kondensstreifen hinterließen; langsam nur faserten sie aus und verbanden sich zu einem fahlen Balken, der sich allmählich auflöste.
Die ist bestimmt das zehnte Hausmädchen, sagte Grams, seit ich denken kann – und ich komm vom Internat nach Hause und schließ hier die Tür auf, und dann seh ich sie da im Wohnzimmer mit den Babys, die lachen über sie, wie sie irgendeine Szene aus irgendeinem Film nachspielt, den sie zusammen gesehen haben. Die Zwillinge bemerken mich gar nicht, bis ich mich räuspere, da laufen sie zu mir her, und Anna richtet sich auf, streicht ihr Kleid glatt, lächelt und beißt sich auf die Unterlippe mit ihrem schiefen Schneidezahn und schaut mich an, als wüsste sie nicht so recht, wo sie hingehöre –
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