Wodka und Brot (German Edition)
sich jahrelang aufgebaut hat, ein Mantel, den man nach Belieben an- und ausziehen konnte. Gestern hatte er angerufen und erzählt, er habe sich von einem zweiten Migräneanfall erholt, der wie der erste gewesen sei. Diese Nadja habe ein Taxi bestellt und ihn zur Sanitätsstation gebracht, dort habe man ihn untersucht und ihm etwas gegen die Schmerzen gespritzt.
»Wer ist diese Nadja?«
»Eine Frau, die Zimmer vermietet.«
»Ist sie schön?«
»Das ist eine Frage des Geschmacks.«
»Single?«
»Das weiß ich nicht.«
»Hat sie noch andere Mieter?«
»Ja, ein junges Mädchen mit Katze, beide rothaarig.«
Er hörte sich müde und kraftlos an, offenbar war er der Letzte, den man beschuldigen konnte, er würde seine Nächte damit verbringen, mit einer gewissen Nadja auszugehen.
»Gideon, du musst dich gründlich untersuchen lassen.«
»Lass uns einen weiteren Anfall oder zwei abwarten, es ist nicht so eilig.«
Noch ein Anfall oder zwei, so eilig ist es nicht, oder? Wir haben das ganze Leben vor uns. Was macht er jetzt dort, betrachtet das Meer? Mit einem Buch, das auf seinen Knien liegt? Fegt er das Zimmer, das er von Nadja gemietet hat? Kocht er sich eine Suppe? Notiert Erkenntnisse zur Bedeutung des Lebens? Ich fragte ihn nicht, und ich beteiligte ihn auch diesmal nicht am Minus bei der Bank. Das Heulen einer Katze drang aus dem Hörer, bestimmt die Rote von der Rothaarigen. Auch Katzen bekommen Migräne, auch bei ihnen gibt es welche, die ihr altes Katzenleben ausziehen und ein neues beginnen wollen, die zur Bank gehen, nach Herzlija ziehen oder ein Rabe sein wollen, alles ist möglich.
»Hör zu, Gideon, noch ein Anfall, und du lässt dich untersuchen.« Plötzlich war ich wütend.
»Was drängelst du denn, alles wird gut.«
Ich hätte schwören können, dass er lächelte, dieses halbe Lächeln, das bei Gericht seine Gegner immer verunsichert hatte.
»Gideon, du bist nicht allein auf der Welt, du trägst die Verantwortung für eine Familie, du hast gesagt, du gehst weg, um über das Leben und das alles nachzudenken, ich habe gesagt, in Ordnung, geh, wir kommen zurecht. Ich habe nicht gewusst, dass es bedeutet, dass du dich selbst vernachlässigst … Uff, ich habe keine Kraft, dir zu erklären, wie unmoralisch du dich uns gegenüber verhältst, wenn du dich nicht untersuchen lässt.«
Er sagte, ich bräuchte ihm nichts zu erklären, und seine Stimme war trocken und brüchig wie eine Eierschale. Dieser Mann entglitt mir, entglitt uns. Vielleicht verbarg sich hinter dem seelischen Leiden, dessentwegen er uns verlassenhatte, irgendeine schreckliche Krankheit. Das ganze großartige Gehirn ist ein biochemisches Geflecht, vielleicht fehlten ihm einige Moleküle von irgendetwas, vielleicht hatte er welche zu viel, und wir beschäftigten uns stattdessen mit dieser idiotischen Bedeutung des Lebens. Draußen bellten Hunde. Wodka hatte schon den Sinn seines Lebens im Dorf gefunden, er bellte den Sinn heraus, den er gefunden hatte, er rannte herum und suchte Weibchen. Er lebte. Ganz einfach, er lebte. Der Junge rannte wie der Hund, aber der Schatten erstreckte sich schon hinter ihm, und seine Ohren lernten zu hören, wie dünne Eierschalen brachen. Nachts lauschte er den Holzwürmern, die in den Fensterstürzen Gänge bohrten, den Nachtfaltern, die um unsere Lampen tanzten, und den beiden ständigen Fliegen, und freute sich über das Leben, das sich um uns herum abspielte. Wir waren nicht allein. Und zu allem Erfreulichen, das um ihn herum geschah, gehörte auch das Auftauchen der kleinen russischen Hure.
Zum Beispiel als sie in einem himmelblauen, extrem kurzen Kleidchen bei uns auftauchte, aus einem Minimum an Stoff, mit dünnen Baumwollträgern über den nackten Schultern. Wie ein Stängel, und auf dem Kopf ein Haarschopf wie eine Paradiesvogelblume. Die Riemen einer winzigen Handtasche wanden sich um ihr Handgelenk, ihre Füße steckten in goldfarbenen Sandalen. Ohne Ankündigung trat sie durch unser Tor, als betrete sie ihr eigenes Haus. Der Junge hob den Kopf von dem Loch, das er grub, und sperrte den Mund auf.
»Hi, Nadav, wie geht’s?« Sie blieb über ihm stehen und der Wind blies ihm ihr Minimalkleid über den Kopf. Er hob den Kopf und seine Augen hatten die Wahl zwischen ihrer geblümten Unterhose und den durchsichtigen Federwolken,die am Himmel entlangsegelten. Sie legte einen Finger auf den Mund und lachte. »Was ist mit dir, bist du geschockt?« Der schwarze Lack auf ihren Fingernägeln
Weitere Kostenlose Bücher