Wodka und Brot (German Edition)
und was oben war, unten. Sommer und Winter wechselten die Plätze, in zwei Wochen war er wieder kindergartenpflichtig, und das Wort Pflicht wird unverrückbar an seinem Leben kleben, er wird wachsen und irgendwann einmal in einem Kreis sitzen, und man wird ihn fragen: Wahrheit oder Pflicht? Und die Entscheidung, was weniger bedrückend ist, wird ihm schwerfallen.
Er wird groß werden und begreifen, dass dann, wenn im Elul die Blausterne blühen und die Zugvögel über das Land ziehen, die Zeit gekommen ist, für Wahrheit oder Pflicht zu bezahlen. Sogar Madonna hatte sich, als sie Elul hörte, geschüttelt, als hätte man ihr gegen einen verstauchten Knöchel getreten.
Inzwischen gelang es dieser Nadja, Gideon erneut zur Sanitätsstation zu bringen, und wieder bekam er eine Spritze gegen die Schmerzen. Mein Vorschlag, er solle nach Hause kommen und sich untersuchen lassen, blieb ohne Erfolg. »Was drängst du so, wer hat denn keine Kopfschmerzen, so, wie sie kommen, gehen sie auch wieder.« Hätte ich seine Stimme nicht brüchig wie eine Eierschale gehört, hätte ich mir keine Sorgen gemacht, aber sie war leer und hohl, er war nicht mehr er selbst.
Auch im Laden geschahen keine Wunder. Amjad stand in der Tür wie ein Seemann auf dem Deck eines untergehenden Schiffes. Er wischte den Staub von den Deckeln alter Marmeladengläser und von Maisdosen, und die meiste Zeit saß er auf einer Kiste, trommelte nervös auf die Seitenwände und sang sehnsüchtige Lieder. Es gab nicht genug Arbeitfür uns beide. Der Laden brauchte viel Erbarmen, um zwei Familien zu ernähren, und das Maß an Erbarmen, das ihm zuteil wurde, reichte noch nicht einmal für eine. Amjad sah das wohl, er schaute hinüber zum Billigmarkt, betrachtete die roten Leuchtbuchstaben, die Toilettenpapier und Dosen mit Champignons als Sonderangebote anpriesen, er sah Lastwagen, die Waren anlieferten, und Einkaufswagen, die Münzen schluckten und einer nach dem anderen aus der Reihe gezogen wurden. Zu Hause hatte er drei Kinder, und in zwei Wochen würden sie neue Federmäppchen brauchen, Hefte und heile Schuhe. Ich sagte, wenn du etwas Besseres findest, dann mach es, und wenn du eine Empfehlung für das Führungszeugnis brauchst, wirst du sie bekommen. Aber heutzutage benötigte auch der letzte Bettler oder Käseschneider ein Diplom, Hingabe und Ehrlichkeit waren nichts mehr wert. Er hatte schon Falten auf der Stirn, silberne Fäden im Haar und eingefallene Wangen, er war ungefähr in Gideons Alter, aber der Himmel über seinem Kopf hing unvergleichlich viel tiefer. Ich wusste nicht, wie ich seinen Lohn aus dem sterbenden Laden ziehen konnte, auch nicht das Geld für seine Abfindung. Als Erstes musste unsere Wohnung vermietet werden, ihre nackten Wände konnten uns Früchte bringen, und wir schlossen einfach die Tür ab und bezahlten den Staub, der sich auf ihnen sammelte, die Grundsteuer, den Verwaltungsbeitrag, den Anteil an Wasser und Strom und zusätzlich die Miete für unsere Unterkunft im Dorf. Ich rief meinen leidenden Fischer an und beschrieb ihm unsere zunehmend beengte wirtschaftliche Lage. »Gideon, wir können uns nicht länger erlauben, so weiterzumachen, wir müssen die Wohnung vermieten.«
»Dann vermiete sie doch, wo ist das Problem.« Seine Stimme war leer und flach, und ich hatte das Gefühl, als platze inmir eine tonnenschwere Bombe. Wo ist das Problem. Wirklich, wo war das Problem. Es fehlte uns ein bisschen Geld, das war alles, da vermieten wir eben die Wohnung und leben glücklich und zufrieden bis an unser Lebensende.
»Natürlich, wo ist das Problem, alles läuft doch fantastisch«, fuhr ich ihn an. »Los, komm aus diesem Film, Gideon. Unser Leben ist im Arsch. Wo ist das Problem, wo ist das Problem, wo lebst du eigentlich, Gideon?«
Ich verließ den Laden, ich wollte Amjad den armseligen Striptease unseres Lebens ersparen, ich ging die Straße hinunter, und zwischen zwei mickrig belaubten Bäumen sagte ich zu meinem Herzen, los, zerbrich, lass alles heraus, und es zerbrach. »Hör zu, Gideon, der Laden ist zu Ende, und mit Romantik lässt sich das Minus nicht stopfen, diese ganze Auszeit, die du dir genommen hast, und der Luxus vom Sinn des Lebens muss auf die Zeit warten, wenn du in Rente gehst. Die Bank versteht nur eine Sprache, hörst du mir überhaupt zu?«
»Ja, tue ich.«
»Also, wenn du mir zuhörst, dann hör dir noch etwas an. Auch unser Familienleben steckt tief im Minus. Der Junge braucht dich, und seine Mutter
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