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Wodka und Brot (German Edition)

Wodka und Brot (German Edition)

Titel: Wodka und Brot (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mira Magén
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die Türangeln geschmiert, damit sie nicht lautquietschten. Das Tor bewegte sich leise, der riesige Flügel öffnete sich zum Weg, ich bat Gott, mich vor allen lauernden Feinden zu schützen, ich stand am offenen Tor und wagte nicht, hinauszugehen. Ich habe einen Jungen, so zart wie ein Schmetterling, ich habe einen Mann mit Migräne, ich trage die Verantwortung, ich kann mir nicht erlauben, zu dieser Zeit meines Lebens zum zufälligen Opfer eines Perversen zu werden. Tränen stiegen mir in die Augen und rieben den Mond, er wurde zu einem polierten Kristall, und er wurde umso schmerzhafter, je heller er wurde. Der Vorabend des 19. Elul, ein Jahrestag zum Verzweifeln schön. Ich werde zu diesem Mann gehen und sagen, hören Sie, ich muss jetzt los, und schon war ich unterwegs zu ihm, und plötzlich erklang ein Lied zwischen den Grabsteinen. »Lauf, Pferdchen, renne durchs Tal, flieg auf den Berg, renne und fliege Tag und Nacht, ich bin ein Reiter, ein Held, ein Ritter  …« Er stand am Grab seines Sohnes, und statt »Erhoben und geheiligt werde sein großer Name« sang er das Reiterlied, sang aus voller Kehle. Die Stimme breitete sich auf dem Friedhof aus, die Toten waren tot, aber alle anderen, die jetzt atmeten, Nachtvögel, Ratten, Ameisen, Grillen, Eidechsen und ich, hielten die Luft an.
    Sein Auto war alt und klein. Ich stieg ein und er sagte: »Er war verrückt nach diesem Lied.« Und das war die ganze Trauerrede, die er für ihn hielt. Wir kamen am hinteren Eingang des Dorfes an, er blieb stehen, und ich wollte aussteigen.
    »Wie geht es dem Alten?«, fragte er und starrte vor sich hin.
    »Trotz allem ist er noch am Leben.«
    »Trotz allem, ja?« Er sprach zur Frontscheibe des Autos.
    »Haben Sie ihn seit damals nicht mehr gesehen?«, wagte ich zu fragen und wollte schon die Tür öffnen. Gleich würde ich aussteigen und hätte keine Ahnung, wie er aussah, welche Farbe seine Augen hatten und welche Zeichen die Zeit und das Leben auf seinem Gesicht hinterlassen hatten. Wie alt war er? Fünfundvierzig? Achtundvierzig? In der Dunkelheit war er gekommen, in die Dunkelheit würde er verschwinden.
    »Nein.«
    Ich machte die Tür auf, und er sagte, es sei seltsam, dass ich Petersilie gebracht hatte, denn was hätte ein Kind mit Petersilie zu tun.
    »Ich habe etwas gebracht, das aus der Erde seines Großvaters gewachsen ist.« Mein linker Fuß tastete über die Steine auf dem Weg, und bevor ich auch den anderen Fuß nach draußen schob, fragte ich, ob ich seinem Vater erzählen dürfe, dass er hier gewesen sei.
    Bis er antwortete, schaffte es der Mond, die Hauptstraße des Dorfes zu überqueren, er wanderte vom Wasserturm zu den ersten Baumwipfeln des Waldes.
    »Ich überlasse es Ihnen, Sie wissen besser als ich, was ihn zum Sturz bringen kann.« Er hatte mich noch kein einziges Mal angeschaut, nun, da mein zweiter Fuß schon den Boden berührte, drehte er das Gesicht zu mir und sagte trocken und kalt: »Ich wohne im Norden. Seit zehn Jahren habe ich keinen Kontakt mit ihm, an dem Tag, an dem mein Sohn umkam, ist mein Vater für mich gestorben. Aber da Sie nun schon mal hier sind, haben Sie bitte ein Auge auf ihn.«
    Ich wusste nicht, ob er den lebenden Alten oder den toten Jungen meinte, seine Kehle war heiser davon, dass er das Pferd hatte traben lassen, Runde um Runde.
    Ich bot ihm eine Tasse Kaffee und das Benutzen der Toilette an, bevor er in den Norden fuhr, und er klopfte ungeduldig auf das Lenkrad und sagte, dafür gebe es Tankstellen.
    »Schreiben Sie sich meine Telefonnummer auf, für den Fall, dass Sie wissen wollen, was hier los ist«, sagte ich.
    »Das werde ich nicht wollen, aber von mir aus.« Er tippte die Nummer, die ich ihm notierte, in sein Handy und fragte nicht nach meinem Namen.
    Ich stieg aus und er fuhr los, seine Reifen wirbelten Staub auf, und das Mondlicht wirbelte mit dem Staub und senkte sich mit ihm.
    Am Morgen des 19. Elul schlief mein Junge noch, und ich stand am Fenster, atmete den Kaffeeduft aus der Tasse in meiner Hand ein und betrachtete den durchsichtigen Dampf, der aufstieg und sich in nichts auflöste, bis Herr Levi, der mit einem Hut aus dem Haus trat, meine Grübeleien plötzlich unterbrach. Sein Gesicht war verschlossen wie bei einer Zeremonie, er trug einen grauen Anzug und eine dunkelrote Krawatte, hatte einen Gehstock in der Hand und stieß damit hart auf die Stufen.
    »Gehen Sie dorthin?«, fragte ich.
    »Ich gehe, wohin ich will.«
    »Ich kann Sie hinfahren.«
    Die Sonne

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