Wodka und Brot (German Edition)
zurief: Du hast noch ein bisschen. Sie trank nichts, es war, als müsse sie zuerst die Geschichte der Familie Levi loswerden, wie man in der Synagoge den Thoraabschnitt, der sich mit Flüchen beschäftigt, lesen muss.
»Ist da draußen alles in Ordnung mit ihnen?« Sie erhob sich, schaute hinaus, setzte sich wieder und sagte: »Hör zu, was dieser Familie danach passiert ist, war wie ein Dominoeffekt, ein Stein fällt, dann fällt die ganze Reihe. Diese Orna drehte völlig durch, sie stürzte in eine Depression, sie packte ihr Zeug und ging, sie wartete das Ende der dreißig Trauertage nicht ab, sie verlangte die Scheidung. Du musst es verstehen, dieser Junge war das Einzige, was sie zusammengehalten hatte. Sie schickte ihm einen Rechtsanwalt mit endlosen Forderungen. Sie verlangte Millionen für den Jungen, den er ihr umgebracht hatte. Verstehst du, ihr umgebracht? Er hat das Haus verkauft, den Jeep, alles, was sie hatten, und hat es ihr gegeben, ihm sind nur Unterhosen und Unterhemden geblieben. Er wollte keinen Cent von seinem Vater, keinen Cent, er hat die Beziehung zu ihm abgebrochen, zehn Jahre ist er nicht zu ihm gekommen, kein einziges Mal, hörst du? Und Amos’ Mutter hielt ein Jahr durch, und eines Morgens stand sie auf und verließden Alten ebenfalls. Sie konnte ihm das ›Du hast noch ein bisschen‹ nicht verzeihen, und er war völlig verrückt geworden, er hatte ihr die Hölle heiß gemacht, bis sie aufgab, ihre Kleider nahm und zu ihrer Schwester zog, einer alten Witwe, die in irgendeinem Loch in Galiläa lebt. Das war’s. Keine Ahnung, wie sie mit dem Haus, dem Geld und allem zurechtkamen, und so ist dieser Levi allein zurückgeblieben, nur Schoschana hat ihn nicht im Stich gelassen, und jetzt ist sie ebenfalls weggezogen, nach Herzlija. Was soll ich sagen, sie tut mir leid. Er tut mir leid. Auf dieser Welt braucht man Glück oder Erbarmen. Wer keins von beidem hat, ist erledigt.« Sie ballte die Hände und schlug mit einer Faust auf die andere, als wolle sie das Glück mit dem Erbarmen verbinden.
»Wie sehr ich in Amos verliebt war, damals, im Gymnasium, und stell dir vor, was für ein Schicksal. Weißt du, wie viele Mädchen hinter ihm her waren? Und er hat diese Orna beim Militär kennengelernt, und dann hatten sie so ein Pech. Wenn die Menschen einen Turm hätten, auf den sie steigen könnten, um zu sehen, was sie in der Zukunft erwartet … Gut, ich rede Blödsinn, ich muss jetzt gehen, ihr seid herzlich bei uns eingeladen, du und Nadav, und wenn dein Mann auftaucht, müsst ihr an Schabbat mal zum Essen kommen …« Sie richtete sich auf, und der Plastikstuhl knirschte unter ihr.
Ein Sonnenstrahl färbte das Porzellan über dem Spülbecken rosa, Maja-Mirjam betrachtete den roten Himmel und sagte: »Nach dem Unfall hat Levi die Kipa abgenommen, er hat seine Gebetsriemen in eine Schublade eingeschlossen und gesagt, ich bin fertig mit Gott.«
Bevor sie ging, fragte ich sie, wie der tote Junge geheißen hatte.
»Chagi«, sagte sie und betrachtete die Kacheln, die langsam grau wurden. »Seine Geburt war das große Fest ihres Lebens. Auf seinen Grabstein haben sie nur seinen Namen und das Geburts- und Todesdatum schreiben lassen. Das war alles. Sonst nichts. Als gäbe es auf der ganzen Welt keine Worte, um zu beschreiben, was für ein Junge er gewesen war.
Der Alte hat sich einen Platz neben ihm gekauft. Von der ganzen Familie sind nur der Alte und der Junge im Dorf geblieben. Der eine unter der Erde, der andere darüber.« Sie betrachtete vom Fenster aus unsere Petersilie mit einem Interesse, als habe sie vergessen, dass es die Erde ist, die viele verschiedene Gewürzpflanzen hervorbringt, nicht irgendwelche Kisten im Supermarkt. Wir gingen hinaus, ich pflückte ihr Petersilie, und sie hielt sich den Strauß an die Nase und roch daran. »Weißt du, Amos hat sich mit Landwirtschaft beschäftigt, er hat einen Doktor in Agrarwirtschaft, er hatte kleine Beete, in denen er alle möglichen Pflanzen gezüchtet und Versuche gemacht hat. Wenn du an seinen Beeten vorbeigegangen bist, sind deine Nasenlöcher aufgegangen, als wärst du in einem himmlischen Laden. Aber nachdem das passiert ist, ist alles vertrocknet, tot, vorbei.« Sie berührte die Petersilienblätter vorsichtig, als hielte sie einen Strauß, den sie jemandem aufs Grab legen wollte. Die Straßenlaternen gingen an, verkündeten offiziell den Beginn des Abends und erinnerten sie daran, dass ihr Mann bald die Türen hinter den Badewannen
Weitere Kostenlose Bücher