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Wölfe und Schafe - Ein Alex-Delaware-Roman 11

Titel: Wölfe und Schafe - Ein Alex-Delaware-Roman 11 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Kellerman
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Schwester, und sie ging. Ich las Tessas Namen auf dem Krankenblatt. Es war still auf der Station.
    »Friedlich, nicht?«, sagte er. »Aller Schmerz für die Dauer der Nacht weggeschlossen.«
    »Wie geht es ihr?«
    »Es fängt an, ihr leid zu tun, und das ist gut.«
    »Ist ihr Dad noch da?«
    »Nein, gerade weg. Er war kurz bei ihr drinnen. Tessa ist ziemlich wütend auf ihn.«
    »Weil er ihr nicht geglaubt hat?«
    »Das auch, aber es geht noch tiefer.«
    »Das ist meistens so.«
    Er nickte. »Es sind sehr nette Leute. Gutwillig, aufrichtig. Aber einfach. Nicht dumm, bloß einfach.«
    »Im Gegensatz zu Tessa.«
    »Tessa ist ungeheuer sensibel. Kreativ, fantasievoll, künstlerisch veranlagt. Beschäftigt sich viel mit existenziellen Fragen. Auch unter den besten Bedingungen wäre sie schon ein schwieriges Kind gewesen. Aber bei dieser Familie war es ungefähr so, als hätte man einem Paar, das gerne VW Käfer fährt, einen Ferrari geschenkt.«

    »Die kleinen Launen des Schicksals«, sagte ich. »Ich hab’ mich schon mit so mancher beschäftigen müssen. Wird sie mit mir reden wollen?«
    »Ich habe sie noch nicht gefragt. Lassen Sie es uns herausfinden.«
    »Wollen Sie einfach da reinplatzen? Die beiden Male, wo ich etwas Ähnliches versucht habe, hat sie panisch reagiert.«
    »Aber jetzt haben Sie ihr etwas zu sagen. Meine Frau hat übrigens doch gewusst, was los ist. Dass man einen Studenten wegen des Mordes an Hope Devane festgenommen hat. Wenn das Tessas Vergewaltiger ist, würde sie bestimmt gern erfahren, dass sie ihn geschnappt haben.«
    »Würde sie bestimmt, aber die Staatsanwaltschaft will die Sache noch ein paar Tage unter Verschluss halten.«
    »Ich könnte Tessa überreden, länger hier zu bleiben. Sie hat mir gesagt, es würde ihr hier gefallen, sie findet es erholsam.«
    »Was ist, wenn ich mit ihr rede, und sie regt sich auf?«
    »Besser hier, wo wir damit umgehen können. Schlimmstenfalls flippt sie aus, und ich muss die ganze Nacht hier verbringen.« Grinsend. »Mein Job. Jedenfalls besser, als zu Hause die Beine hochzulegen, ein Bier zu trinken und in die Glotze zu gucken, oder?«
    Ich musste lachen.
    Er lachte auch, dann wurde er ernst. »Möchten Sie’s versuchen?«
    »Können Sie die Sache vertraulich behandeln?«
    »Sie hat kein Telefon, und ich bin nicht gerade ein Plappermaul.«
    »Also gut«, sagte ich.
    »Schön«, sagte er. »Kommen Sie, sie liegt auf Zimmer drei.«

    Man hatte sich Mühe gegeben, das Zimmer gemütlich zu gestalten: weiße Tapete mit blassblauem Wellenmuster, Echtholzmöbel, ein großes Fenster, Blumen in der Vase. Aber bei genauerem Hinsehen bemerkte man, dass unter der Tapete eine Art Polsterung war, die Möbel keine scharfen Kanten aufwiesen, die Lampe mit versenkbaren Schrauben fest in der Decke verdübelt war und vor dem Fenster Holzgitter ihre Schatten warfen. Die Vase war aus Plastik und auf dieselbe Art festgedübelt. Die Blumen waren echte Lilien. Lilien sind ein Zwiebelgewächs. Ungiftig.
    Tessa saß auf dem Bett und las Zeitschriften. Sie trug ein graues Sweatshirt mit Uni-Aufdruck und eine kurze Jeanshose. Die beiden anderen Male, an denen ich sie gesehen hatte, war sie ganz in Schwarz gewesen. Ihre Beine waren lang und dünn, fast so weiß wie die Wand. Unter dem linken Ärmel guckte ein dreieckiges Stückchen Verband hervor.
    Sie las weiter.
    Ängstlich und verletzlich. Für Muscadine war sie deshalb Freiwild gewesen.
    »Da bin ich wieder«, sagte Emerson.
    Sie blickte auf, sah mich, und der alte panische Ausdruck trat wieder in ihre Augen.
    »Keine Angst, Tessa«, sagte Emerson und ging auf sie zu. »Dr. Delaware ist in Ordnung. Ich verbürge mich für ihn.«
    Ihre Unterlippe zitterte.
    Ich lächelte.
    Sie sah nach unten auf ihre Zeitschrift.
    »Interessanter Artikel?«, erkundigte sich Emerson.
    Sie antwortete nicht, atmete tief.
    Emerson trat noch näher an sie heran und sah ihr über die Schulter. »Wiederaufforstung der Ostküste.« Er las weiter. »Hier steht, die Bäume kämen von alleine wieder zurück.
Soll das heißen, die bringen zur Abwechslung auch mal eine gute Nachricht?«
    Tessa kaute auf ihrer Lippe. »Die Bäume kommen wieder, weil die Wirtschaft am Boden liegt. Je mehr Fabriken schließen, desto mehr Menschen verlassen die Kleinstädte, und das Land wird wieder zur Wildnis.«
    »Ach«, sagte Emerson. »Was ist das jetzt? Eine schlechte Nachricht? Oder eine Mischung aus beidem?«
    »Sagen Sie’s mir.«
    »Was denkst du?«
    »Dass ich nicht

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