Wölfe und Schafe - Ein Alex-Delaware-Roman 11
nicht mit Männern?
Höchstwahrscheinlich hatte ein Mann sie hingerichtet - so erschien mir nämlich dieser Mord, wie mir jetzt erst klar wurde.Wie eine Hinrichtung.
Welcher Mann? Ein zum Äußersten getriebener Ehemann? Ein wahnsinniger Unbekannter?
Oder jemand irgendwo in der Mitte zwischen diesen beiden Extremen auf der Bekanntheitsskala?
Ich überquerte den Innenhof, setzte mich an einen Steintisch und überprüfte die Stundenpläne, die Milo mir mitgegeben hatte.
Vorausgesetzt, sie machten nicht blau, dann waren Patrick Huang, Deborah Brittain und Reed Muscadine gerade mitten in verschiedenen Seminaren. Aber Tessa Bowlbys Vorlesung im Psychologie-Gebäude musste in fünfzehn Minuten zu Ende sein.
Ich studierte ihr Foto. Sehr kurzes, dunkles Haar und ein schmales Gesicht mit einem leicht fliehenden Kinn. Selbst unter Berücksichtigung der schlechten Qualität der Fotokopie wirkte sie niedergeschlagen.
Die matten Augen machten sie sehr viel älter.
Aber das konnte nicht an ihrer Auseinandersetzung mit Muscadine liegen, denn das Bild war zu Beginn des Semesters aufgenommen worden, also schon Monate vorher. Ich zog mir rasch einen Automatenkaffee und ging zurück zu den Psychologen, um festzustellen, ob das Leben ihr inzwischen noch härter zugesetzt hatte.
Die Vorlesung war fünf Minuten früher als angekündigt zu Ende, und Studenten strömten in den Gang, als wäre irgendwo ein Damm gebrochen. Sie war leicht auszumachen, wie sie allein, eine Umhängetasche voller Bücher über der Schulter, Richtung Ausgang eilte. Sie blieb abrupt stehen, als ich sagte: »Ms. Bowlby?«
Ihr Arm sank herab, und das Gewicht der Tasche zog ihre Schulter nach unten.Trotz des fliehenden Kinns und einiger Pickel, war sie mit der sehr weißen Haut und den riesigen blauen Augen nicht unattraktiv. Ihr pechschwarz gefärbtes Haar war unregelmäßig geschnitten, entweder aus Nachlässigkeit oder gewollt. Die Nasenspitze war leicht gerötet - erkältet oder eine Allergie. Sie trug einen sackartigen schwarzen Pullover, der an einem Ärmel anfing sich aufzulösen, abgewetzte schwarze Röhrenjeans, die an den Knien Löcher hatten, und lederne Schnürstiefel mit dicken Sohlen und abgestoßenen Spitzen.
Sie wich zurück, um ihre Kommilitonen vorbeizulassen. Ich zeigte ihr meinen Ausweis und wollte mich vorstellen.
»Nein«, sagte sie und wedelte hektisch mit einer schmalen Hand. » Bitte nicht.« Eine heiser flehende Stimme. Ihre Augen suchten den Ausgang.
Ms. Bowlby.«
»Nein!«, sagte sie, diesmal lauter. »Lassen Sie mich in Ruhe! Ich habe nichts zu sagen!«
Sie stürmte zum Ausgang. Ich zögerte einen Augenblick, dann folgte ich ihr und beobachtete aus einiger Entfernung, wie sie zur Tür hinausrannte, dabei fast ins Stolpern geriet, die Eingangstreppe hinuntersprang und auf den Brunnen vor dem Gebäude zulief. Der Brunnen führte kein Wasser, und Ströme von Studenten trafen in der Nähe des schmutzigen Beckens zusammen, bevor sie wieder auseinandergingen und sich wie auf gigantischen Ameisenstraßen über den Campus verteilten.
Sie lief unbeholfen, behindert durch die schwere Umhängetasche. Eine dünne, zerbrechlich wirkende Gestalt, so ausgezehrt, dass die enge Jeans noch zu weit für ihr Gesäß war und bei jedem Schritt Falten warf.
Drogen? Stress? Magersucht? Krankheit? Alles zusammen?
Noch während ich mich das fragte, verschwand sie in dem Gedränge und wurde eine von vielen.
Ihre Angst - eigentlich Panik - weckte in mir den Wunsch, mit dem Mann zu sprechen, den sie beschuldigt hatte, sie vergewaltigt zu haben.
Ich rief mir die Einzelheiten in Erinnerung: Kino und Abendessen, Knutscherei.Tessa behauptete, er sei gegen ihren Willen in sie eingedrungen, Muscadine beteuerte, es sei in gegenseitigem Einvernehmen geschehen.
Etwas, das nie würde bewiesen werden können, weder so noch so.
Er hatte einen Aids-Test gemacht. Ebenso wie sie.
Negativ. Bis jetzt.
Aber jetzt war sie gespensterhaft blass, dünn, erschöpft.
Die Krankheit hatte eine gewisse Inkubationszeit.
Vielleicht hatte das Glück sie verlassen.
Das könnte die Panik erklären... aber sie nahm noch immer an Lehrveranstaltungen teil.
Der Test war an der Uniklinik vorgenommen worden. Ohne zwingende rechtliche Gründe würde es unmöglich sein, das Ergebnis herauszubekommen.
Es erschien mir dringender denn je, Muscadine in Augenschein zu nehmen, aber sein Schauspiel-Seminar fand im Blockunterricht statt und würde noch zwei Stunden dauern.
In
Weitere Kostenlose Bücher