Wölfe und Schafe - Ein Alex-Delaware-Roman 11
beobachtet zu fühlen. Aber wenn Sie ihn verdächtigen, wieso reden Sie dann mit mir?«
»Ich versuche, so viel wie nur eben möglich über Professor Devane in Erfahrung zu bringen. Welche Menschen ihr nahestanden, was sie so gemacht hat, wen sie verärgert haben könnte.«
»Nun, wir haben uns nicht nahegestanden.Wir haben uns bloß ein paarmal unterhalten - vor der Ausschusssitzung und danach. Sie hat mir Ratschläge gegeben, wie ich mich verhalten sollte. Sie war unglaublich freundlich und verständnisvoll. Als ob sie wirklich wusste, wie es war.«
»Belästigt zu werden?«
»Was es für ein Gefühl ist, Opfer zu sein.«
»Hat sie darüber gesprochen, selbst einmal das Opfer gewesen zu sein?«
»Nein, nichts in der Art. Aber sie hatte Mitgefühl - echtes Mitgefühl, nicht wie die anderen, die so tun als ob.«
Die blauen Augen blickten mich eindringlich an.
»Sie war eine außergewöhnliche Frau. Ich werde sie nie vergessen.«
Tessa Bowlbys Studentenwohnheim am Nordwestrand des Campus lag zwischen sanft geschwungenen Wiesen und zotteligen Kokospalmen. Ich parkte in einer Ladezone neben dem Wohnheim, betrat die Eingangshalle und ging zum Empfang. Eine junge Schwarze saß dort und las, mit einem
Textmarker bewaffnet, in einem Buch. Ihre Lippen waren ebenso pink wie der Textmarker. Hinter ihr befand sich eine Telefonanlage. Ein Lämpchen blinkte auf, ein Summer ertönte, und als sie sich umwandte, um den Anruf entgegenzunehmen, bemerkte sie mich. Ich konnte denTitel des Buches lesen. Grundlagen der Wirtschaftswissenschaft.
Nachdem sie den Anruf weitervermittelt hatte, wandte sie sich mir zu: »Kann ich Ihnen helfen?«
»Ich möchte bitte zu Tessa Bowlby.«
Sie nahm eine mehrseitige Liste mit Namen zur Hand. Die mit B begannen auf der zweiten Seite und gingen bis zur dritten. Sie ging sie zweimal durch, bevor sie den Kopf schüttelte.
»Tut mir leid. Wir haben hier niemanden mit diesem Namen.«
»Tessa ist vielleicht ein Spitzname.«
Sie sah mich prüfend an und schaute dann noch einmal nach. »Wir haben überhaupt keine Bowlbys hier. Versuchen Sie’s in einem anderen Wohnheim.«
Ich versuchte es bei allen. Mit demselben Ergebnis.
Vielleicht wohnte Tessa nicht mehr auf dem Campus. Viele Studenten suchten sich anderswo Wohnungen. Aber wenn ich an die Angst in ihren Augen dachte und an ihre wenigen Seminare, kam mir das Ganze allmählich wie eine Flucht vor.
Von einem öffentlichen Fernsprecher im letzten Studentenwohnheim rief ich Milo an. Ich wollte wissen, ob er die Adresse ihrer Eltern hatte, und wollte ihm von den Ungereimtheiten in Cruvics Werdegang berichten. Aber er war nicht da, und auch über sein Handy konnte ich ihn nicht erreichen. Vielleicht war er ja auf einen weiteren Mord mit drei Messerstichen gestoßen, der all meine Gedanken ad absurdum führen würde.
Ich fuhr los und hielt bei der ersten Tankstelle, die ich finden konnte. Die Telefonzelle war eine schiefe Aluminiumruine, aber sie besaß noch ein halbwegs brauchbares Telefonbuch. Und die Seite mit allen Bowlbys war nicht herausgerissen.
Mit allen beiden:
Bowlby,T. J.,Venice, ohne Anschrift.
Bowlby,Walter E., Mississippi Avenue.
Ich fing mit Walter an der Mississippi Avenue an, weil der am nächsten wohnte.
Sehr nah. Nur knapp eine Meile südlich der Universität, in einer Gegend mit kleinen Nachkriegshäusern und einigen wenigen größeren Fantasieprojekten.
Offensichtlich wartete man auf die Müllabfuhr. Überquellende Mülleimer und dickbauchige Müllsäcke kündeten stolz vom Konsum. Eichhörnchen suchten hektisch nach Futter. Nachts würden ihre Vettern, die Ratten, das Kommando übernehmen.
Das Haus von Walter Bowlby war ein brauner Bungalow mit schwarzem Schindeldach. Der Rasen war so kurz geschnitten wie ein Rekrutenschädel und mehr grau als grün. Eine breiteVeranda beherbergte ein paarTopfpflanzen, einen Aluminiumstuhl und ein kleines blaues Kinderrad mit Stützrädern. In der Einfahrt stand ein alter brauner Ford. Ich ging zur Tür. Auf einem kleinen Schildchen stand schlicht und ergreifend: BOWLBY. Niemand öffnete auf mein Klingeln und Klopfen.
Ich saß schon wieder in meinem Seville und wollte gerade losfahren, als ein blauweißer Kleinbus in die Einfahrt einbog und hinter dem Ford hielt. Die Fahrertür öffnete sich.
Ein O-beiniger Mann Mitte vierzig mit dunklem Schnurrbart stieg aus. Er trug ein weißes Polohemd aus Nylon mit
grünen Querstreifen, das Milo gefallen hätte, eine beigefarbene Hose
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