Wölfe und Schafe - Ein Alex-Delaware-Roman 11
Bowlby?«
Wieder entstand eine sehr lange Pause. »Wahrscheinlich finden Sie es so oder so raus, also erzähle ich es Ihnen wohl besser.«
Er wollte rauchen, gab aber stattdessen einen würgenden Laut von sich, der mich zusammenfahren ließ. Hastig schirmte er seine Augen mit einer Hand ab.
»Sie hat mich beschuldigt«, sagte er mit bebender Stimme. »Zwei Jahre später, als sie vierzehn war.Wir waren schon mit ihr beim Psychiater, weil sie davon geredet hatte, sich was anzutun, und weil sie nichts aß. Sie sehen ja selbst, wie dünn sie ist. Sie war magersüchtig. Fand sich zu dick und hat den ganzen Tag Gymnastik gemacht. Das fing an, als sie vierzehn war, und irgendwann wog sie gerade noch dreißig Kilo, so dass der Psychiater sie in ein Krankenhaus eingewiesen hat. Da ist sie künstlich ernährt worden, und ein Psychologe hat Gespräche mit ihr geführt. Und dann meinte sie plötzlich, sich zu erinnern.«
Er nahm die Hand von den Augen, die feucht waren, aber meinem Blick nicht auswichen.
»Sie hat gesagt, es wäre passiert, als sie ganz klein war - fast noch ein Baby, zwei oder drei.« Er schüttelte den Kopf. »Es stimmt nicht, Sir. Die haben mir geglaubt - im Krankenhaus, die Polizei und meine Frau. Die Polizisten haben gesagt, sie wären verpflichtet, in der Sache zu ermitteln, und ich musste die ganze Sache über mich ergehen lassen. Es war schrecklich. Wieder die Polizei vonTemple City. Ein gewisser Detective
Gunderson. Netter Bursche, vielleicht ist er ja noch da. Am Ende ist jedenfalls rausgekommen, es war Tessas wilde Fantasie. Die geht einfach mit ihr durch. Als sie noch klein war, ist es oft vorgekommen, wenn sie irgendwas im Fernsehen gesehen hatte und das dann wirklich sein wollte - Zeichentrickfiguren, alles Mögliche. Verstehen Sie? Sie wollte rumfliegen und Supergirl sein, so Sachen. Deshalb kann ich mir nur denken, vielleicht hat sie irgendeinen Film gesehen und sich dann eingeredet, es wäre ihr selbst passiert.«
Er strich sich über den Schnurrbart. »Bevor ich geheiratet habe, war ich ziemlich wild. Habe kurz wegen Einbruchs in der Jugendhaftanstalt gesessen. Aber dann bin ich vernünftig geworden, habe eine Lehre als Mechaniker gemacht - ich erzähl’ Ihnen das bloß, damit Sie sehen, dass ich ein ordentlicher Mensch bin, verstehen Sie?«
»Ja.«
»Wissen Sie, bei Tessa kann man nie wissen, was sie tun wird. Nach der Untersuchung hat sie zugegeben, sie hätte sich geirrt. Sie sagte, sie würde sich schuldig fühlen und wollte sich umbringen. Ihre Mom und ich haben ihr gesagt, das wäre das Schlimmste, was sie uns antun könnte, und wir hätten sie doch lieb. Zu allem Übel wollte die Versicherung genau in dem Augenblick, als es ihr so schlecht ging, die Krankenhauskosten nicht mehr zahlen, und wir mussten sie nach Hause holen. Die im Krankenhaus haben gesagt, wir müssten gut auf sie aufpassen. Wir haben sie nicht mehr aus den Augen gelassen. Dann haben wir eine Familienberatung gemacht, und das schien ihr gutzutun.Wir dachten schon, sie wäre wieder in Ordnung. Und bloß damit Sie sehen, wie schlau sie ist, sie hat die ganze Zeit über gute Noten gehabt und ist an der Universität angenommen worden. Wir haben wirklich gedacht, alles wäre wieder gut. Und auf einmal eröffnet sie uns, sie wolle wieder nach Hause ziehen.
Dann bricht sie zusammen und erzählt uns diese Vergewaltigungsgeschichte. Irgendein Kerl, mit dem sie ausgegangen ist. Ich habe gesagt, ich würde ihr glauben, aber …«
Er drückte die Zigarette im Aschenbecher aus. »Wenn ich sicher wäre, dass es stimmt, hätte ich mir den Burschen selbst vorgeknöpft. Aber ich weiß, sie hat mich zu Unrecht beschuldigt. Und diesen Jungen. Also, was soll ich da glauben? Und sie hat ja auch nicht direkt was gesagt, sondern erst nachdem sie dieVorlesung von dieser Professorin gehört hatte. Dann ist die Professorin ermordet worden. Als ich das gehört habe, hab ich Angst gekriegt. <
»Angst wovor?«
»So einer wie ich, der noch nicht mal die High-School zu Ende gemacht hat, denkt doch, an der Uni kann einem nichts passieren. Und dann hört man so was.«
»Hat Tessa Ihnen irgendwas über Professor Devane erzählt?«
»Bloß, dass sie sie gern hatte. Weil sie ihr geglaubt hat. Sie hätte nie gedacht, jemand würde ihr je wieder glauben. Dann hat sie wieder davon angefangen, was sie über mich gesagt hatte, und hat richtig losgeheult. Sie hat gesagt, es täte ihr so leid, und hat gemeint, wer einmal lügt und so weiter. Ich habe
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