Woerter durchfluten die Zeit
schützen. Du bist ihnen verpflichtet. Du darfst nicht zulassen, dass die Hüterinnen alles zerstören. Die ganzen Jahre haben wir unsere Aufgabe erfüllt und wir werden es weiter tun. Niemand wird sich uns in den Weg stellen. Hörst du?«
Es war Nathan unmöglich, seinen Blick abzuwenden.
»Ich werde dich nicht enttäuschen, Großvater. Du kannst dich auf mich verlassen.«
Batiste nickte zufrieden. Nathan würde tun, was er ihm auftrug. Er war sich seiner Pflicht wohl bewusst.
Später, als Batiste allein war, kamen ihm Zweifel. Zweifel, ob Nathan dem gewachsen war, was vor ihm lag. Er hatte dem Jungen vieles verschwiegen. Dinge, die er zum Schutz des Vermächtnisses, das er bewahrte, hatte tun müssen. Der Bund, den seine Vorfahren vor vielen Hundert Jahren gegründet hatten, musste geschützt werden. Nur so war es ihnen möglich gewesen, über die Zeiten hinweg ihre Bestimmung zu erfüllen. Dafür hatten er und seine Vorfahren gelebt.
Sein einziger Sohn war eine Enttäuschung gewesen. Zu spät hatte er erkannt, dass die Erziehung durch die Mutter das Kind verweichlichte. Mit seinem Enkel sollte ihm das nicht passieren, das hatte er am Tage seiner Geburt geschworen. Das Resultat konnte sich sehen lassen. Nathan erfüllte die Aufgabe bisher besser als jeder de Tremaine vor ihm. Batiste hatte ihn perfekt vorbereitet und die Mühe hatte sich gelohnt.
Nathan durfte ihn nicht enttäuschen. Irgendwann würde er den Bund führen und Aufgaben übernehmen müssen, von denen er bis jetzt nicht einmal etwas ahnte. Batiste fragte sich, wie Nathan die Wahrheit aufnehmen würde. Jahrelang hatte er ihn zu dem gemacht, was er heute war. Doch je älter Nathan wurde, umso größer wurde Batistes Besorgnis, dass der junge Mann ihm entgleiten könnte. Batiste schlug mit der Faust auf das Fensterbrett vor ihm. Nathan war sein Werk und er würde tun, was er ihm befahl. Ansonsten würde er das Problem selbst lösen müssen, so wie er es schon einmal getan hatte. Es war keine leichte Aufgabe gewesen, aber die Umstände hatten ihn dazu gezwungen. Er hatte keine Wahl gehabt.
Nathan reiste am nächsten Morgen in aller Frühe zurück nach London. Sein Großvater schlief noch und so verabschiedete Sofia ihn.
»Lass uns nicht zu lange warten, bevor du das nächste Mal kommst«, verlangte sie mehr, als dass sie bat.
»Du weißt doch, dass ich viel zu tun habe«, antwortete Nathan und erwiderte ihre Umarmung.
Harold brachte ihn zum Bahnhof und winkte ihm, als der Zug abfuhr. Nathan wusste, dass er für Harold und Sophia der Sohn war, den beide nie gehabt hatten.
Als er in London ankam, war er erleichtert, dass es zu spät war, um die Bibliothek noch aufzusuchen.
Ein Buch ist wie ein Garten,
den man in der Tasche trägt.
Arabisches Sprichwort
6. Kapitel
Lucy fragte sich, wo Nathan abgeblieben war. Es war mehrere Tage her, dass sie ihn gesehen hatte. Weshalb kam er nicht wieder? Er hatte ausdrücklich gesagt, dass er Alice noch einmal ansehen wollte. Auch auf dem Collegegelände hielt sie vergeblich nach ihm Ausschau. Ob er krank war? Sie ließ sich sogar dazu hinreißen, nach seiner Anschrift zu suchen. Die Queen Anne’s Gate war nicht weit von der Bibliothek entfernt und eine ziemlich vornehme Straße. Er wohnte dort in einem der Stadthäuser. Noch etwas, das nicht zu einem Studenten passte.
Leider hatte sie von ihrem Computer aus keinen Zugriff auf das Benutzerverzeichnis, und als sie Adresse und Telefonnummer an Maries Rechner heraussuchte, wurde sie von ihrer Freundin dabei erwischt.
»Was machst du da?«, fragte Marie und grinste übers ganze Gesicht.
»Ich wollte bloß …«, stammelte Lucy verlegen.
»Was?«
»Ich wollte ihn anrufen und fragen, wann er noch mal kommt. Sonst würde ich das Buch wegräumen«, erwiderte sie trotzig.
»Du hättest mich fragen können. Ich rufe ihn gern für dich an«, sagte Marie, immer noch schmunzelnd.
»Dann mach das«, antwortete Lucy und steckte den Zettel ein, auf dem sie sich die Adresse notiert hatte.
»Ok.«
Lucy blieb an Maries Schalter stehen und beobachtete sie, während sie die Nummer wählte. Das Freizeichen erklang eine Weile, bevor Nathan abhob.
»Nathan de Tremaine«, hörte sie seine Stimme bis zu sich.
»Ich bin es, Marie aus der Bibliothek. Ich soll dich von Lucy fragen, wann du Alice noch einmal sehen möchtest. Sie kann es nicht abwarten«, fügte sie hinzu.
Lucy schoss die Röte ins Gesicht. Abrupt wandte sie sich ab und stürmte
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