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Woerter durchfluten die Zeit

Woerter durchfluten die Zeit

Titel: Woerter durchfluten die Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marah Woolf
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eigentlich, dass sie Nathan verdächtigte, überlegte sie. Es war völlig unlogisch. Er hatte sich erst vor drei Wochen in der Bibliothek angemeldet, das hatte sie überprüft, und bisher kein anderes Werk als Alice ausgeliehen. Die beiden verschwundenen Bücher waren gar nicht durch seine Hände gegangen. In was steigerte sie sich da hinein? Nur weil er sich ihr gegenüber eigenartig verhielt, musste er noch lange nichts mit dem Verschwinden der Bücher zu tun haben. Er kam ja nicht mal hier herunter. Es war völlig unlogisch, ihn zu verdächtigen.
     
    Unversehrt gab Nathan ihr das Buch einige Stunden später zurück. Lucy blätterte es durch, konnte jedoch keine Veränderung entdecken. Ihr fiel ein Stein vom Herzen.
    »Ich bringe es runter und dann können wir los«, erklärte sie, deutlich gnädiger gestimmt als am Vormittag. Dem Buch war schließlich nichts geschehen.
    Wenige Minuten später stand sie neben Nathan, der bei Marie auf sie wartete.
    »Bereit?«, fragte er. Lucy nickte und sah auf die Uhr.
    Es würde knapp werden, rechtzeitig zu Beginn der Vorlesung da zu sein.
    »Viel Spaß euch beiden«, rief Marie ihnen hinterher. Ihr Ton sprach Bände. Lucy würde morgen ein ernstes Wörtchen mit ihr sprechen müssen. Sie bemerkte, dass Nathan neben ihr schmunzelte. Böse sah sie ihn an.
    »Was ist?«, fragte er unschuldig und hielt ihr die Tür auf.
    Kalter Wind schlug ihnen entgegen. Zum Glück behielten die grauen Wolken ihren Regen noch für sich. Lucy hoffte, dass sie es trocken bis zum King’s College schafften. Wenn sie nass wurde, sah sie aus wie ein begossener Pudel. Sie sollte sich angewöhnen, einen Schirm mitzunehmen. In London konnte man schließlich jederzeit von einem Regenschauer überrascht werden.
    Stumm liefen die beiden zur U-Bahn. Erst als sie nebeneinander durch das unterirdische London rasten, brach Lucy das Schweigen.
    »Ist das deine einzige Veranstaltung heute?«
    »Nein. Ich hab noch ein Seminar«, antwortete Nathan und wandte sich ihr zu.
    »Und du?«
    Lucy schüttelte den Kopf. »Ich hab danach Schluss.«
    »Gehst du noch einmal in die Bibliothek?«
    »Nein. Marie, unsere andere Mitbewohnerin und ich gehen ins Kino«, fügte sie hinzu, um das Gespräch nicht abreißen zu lassen.
    Offenbar hatte Nathan dieselbe Intention. »Was schaut ihr euch an?«
    »Ich weiß nicht. Jules ist dran, den Film auszusuchen. Wir wechseln uns immer ab und die anderen müssen mit rein, ob sie wollen oder nicht. Jules Filmgeschmack ist zugegebenermaßen etwas merkwürdig.«
    »Jules?«, fragte Nathan. »Deine Freundin heißt Jules?«
    »Ja. Sie kommt aus Amerika«, antwortete Lucy, als ob das den Spitznamen ihrer Freundin erklären würde. Als sie seinen verständnislosen Blick sah, beeilte sie sich hinzuzufügen: »Eigentlich heißt sie Juliana. Aber natürlich darf niemand sie so nennen.«
    »Natürlich nicht«, antwortete Nathan ernst.
    Doch Lucy bemerkte das Lächeln, das seine Mundwinkel umspielte.
    »Das solltest du öfter tun«, entschlüpfte es ihr.
    »Was?«, fragte Nathan verständnislos.
    »Lächeln«, erklärte sie spöttisch. »Es steht dir besser als dieser finstere Blick.«
    Die Türen der U-Bahn öffneten und schlossen sich kurze Zeit später wieder.
    »Ich glaube, wir haben unsere Station verpasst«, meinte Nathan trocken.
    Lucy sprang auf. »Weshalb hast du nichts gesagt? Mist, verdammter! Jetzt kommen wir zu spät.«
    »Wir werden es schon schaffen. Wir müssen nur ein bisschen länger zu Fuß gehen. Die frische Luft wird dir guttun. Das ist nicht gesund, den ganzen Tag im Keller. Du bist sowieso viel zu blass.«
    Misstrauisch sah Lucy Nathan an. Was ging ihn das an? Sie war schon immer zu blass gewesen. Sorgte er sich um sie? Dafür kannte er sie wohl nicht gut genug.
    Als sie an der nächsten U-Bahn-Station die unzähligen Stufen hinaufliefen, sah Lucy schon vom Fuß des letzten Absatzes, dass es regnete. Der Himmel hatte sich gegen sie verschworen. Sintflutartige Regenfälle rauschten auf die Straße. Sie blieb stehen und überlegte, ob es unter diesen Umständen sinnvoll war, weiter nach oben zu steigen. Nathan zog einen winzigen Schirm aus seiner Jackentasche und spannte ihn auf.
    »Darf ich?«, fragte er, und bevor Lucy antworten konnte, hatte er einen Arm um ihre Schulter gelegt und zog sie weiter.
    »Wir wollen doch nicht noch später kommen«, bemerkte er spöttisch. »Außerdem ist es nicht angeraten, auf den Stufen einer Londoner U-Bahn-Station stehen zu bleiben. Die Leute

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