Woerter durchfluten die Zeit
könnten dich versehentlich tottreten.«
Während Lucy damit beschäftigt war, die widersprüchlichen Gefühle einzuordnen, die ihr seine Nähe bescherte, waren sie auf der Straße angekommen.
»Erste Londoner Überlebensregel«, fügte Nathan hinzu und zog sie enger an sich, als er bemerkte, dass einige Regentropfen auf ihrer Jacke gelandet waren.
Lucy musste zugeben, dass es nicht unangenehm war, so eng aneinandergeschmiegt mit ihm durch den Londoner Regen zu laufen. Jetzt war sie beinahe froh, dass sie eine Station zu weit gefahren waren und dass sie keinen eigenen Schirm besaß.
»Was ist die zweite?«, fragte sie nach einer Weile.
»Ich würde sagen, nicht zu fremden Männern unter Regenschirme zu schlüpfen.« Nathan lächelte sie wieder verschmitzt an.
»Ich bin nicht geschlüpft«, verteidigte sich Lucy empört und wollte sich losmachen.
Nathan zog sie noch näher zu sich. »Ich bin nicht fremd«, sagte er zu seiner Verteidigung.
»Nicht?«, entgegnete Lucy schnippisch.
»Nein. Du weißt, dass ich am King’s College studiere. Du kennst meinen Namen, meine Adresse, meine Telefonnummer. Und du weißt, dass ich gern lese. Nein, ich würde sagen, fremd ist etwas anderes.«
»Deine Adresse und Telefonnummer kennt nur Marie«, berichtigte sie ihn.
»Wirklich?«, fragte er zweifelnd.
Lucy wich seinem Blick aus.
»Das können wir sofort ändern«, erklärte er beinahe fröhlich.
Mit diesen Worten waren sie angekommen. Vor der Tür des Gebäudes, in dem ihr Seminar stattfand, ließ Nathan Lucy los und schüttelte seinen Schirm aus.
Seiner Nähe beraubt, wurde Lucy kalt. Sie schlang ihre Arme um ihren Oberkörper.
»Kalt?«, fragte Nathan.
»Geht schon«, erwiderte sie und verdrängte den Wunsch, dass er sie wieder in seine Arme nahm.
Nebeneinander liefen sie die Treppe hinauf. Die Veranstaltung hatte bereits vor fünf Minuten begonnen. Natürlich war Professor Wyatt diesmal pünktlich gewesen. Glücklicherweise beachtete er nur Nathan und nickte ihm zu, während er Lucy vollkommen ignorierte. Der Hörsaal war wieder völlig überfüllt, so dass ihnen nur ein Fensterbrett als Sitzgelegenheit blieb, aber immerhin funktionierte der altmodische Heizkörper, der darunter angebracht war.
Der Platz reichte gerade so für sie beide. Lucy balancierte ihren Schreibblock auf den Knien und versuchte Professor Wyatt bei seinen Ausführungen zur englischen Literaturgeschichte zu folgen. Aber Nathans Nähe machte dies beinahe unmöglich. Wieder roch sie den herben Duft seines Eau de Toilette und spürte ihn mit jeder Faser ihres Körpers. Als sie sich vorbeugte, um der Enge zu entgehen und sich Notizen zu dem Gesagten zu machen, verlor sie das Gleichgewicht und wäre beinahe von dem schmalen Brett gepurzelt. Nathan fasste sie um ihre Taille, zog sie zurück und ließ sie den Rest der anderthalb Stunden nicht mehr los. Die Mitschrift dieser Vorlesung würde sie sich von einem Kommilitonen kopieren, beschloss sie und überließ sich den Gefühlen, die Nathans Nähe in ihr auslösten.
Unangenehm war etwas anderes.
Der Vorlesungsraum leerte sich schnell. Nathan reichte Lucy ihre Jacke, die sie langsam überzog.
»Dann noch viel Spaß bei deinem Seminar. Wir sehen uns in der Bibliothek«, sagte sie.
»Ich lasse es ausfallen«, erwiderte Nathan und zog sich seinen schwarzen Mantel über.
»Weshalb?«, fragte Lucy überrascht.
Nathan deutete auf das Fenster. Draußen prasselte der Regen mit unverminderter Stärke.
»Du hast keinen Schirm«, erwiderte er. »Ich sehe es als meine Pflicht an, dich zum Kino zu begleiten. Ein echter englischer Gentleman tut so etwas«, erklärte er ernst.
Lucy verschränkte ihre Arme vor der Brust. »Du könntest mir deinen Schirm leihen«, sagte sie herausfordernd.
Nathan blickte ihr tief in die Augen. »Ich trenne mich nie von ihm«, sagte er dann in einem Tonfall, der Lucy zum Lachen brachte. So viel zu Colins Theorie.
»Na gut, du Kavalier. Da ich dich wahrscheinlich nicht abschütteln kann, erlaube ich dir, mich zu begleiten.«
»Es ist mir eine Ehre«, erwiderte Nathan. In seinen Mundwinkeln deutete sich ein winziges Lächeln an.
Weshalb war er plötzlich so nett und zuvorkommend? Keine Spur mehr von dem arroganten Kerl, der er noch vor wenigen Tagen gewesen war. Sie wurde nicht schlau aus ihm.
Lucy sah genau, dass Jules die Augen aus dem Kopf fielen, als sie und Nathan gemeinsam am Kino eintrafen. Ungeduldig trippelte Jules hin und her und wedelte mit den Karten.
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