Woerter durchfluten die Zeit
Die Kinder wurden um sieben geweckt. Um halb acht gab es Frühstück, das die Erzieher, die im Heim lebten, mit ihr und den Kindern einnahmen. Um kurz nach acht verließen die Kinder das Haus. Dann endlich kehrte Ruhe ein. Madame Moulin zog sich in ihr Büro zurück und Martha, die Köchin und der gute Geist des Hauses, brachte ihr ihren geliebten Earl Grey. Bedächtig rührte sie Zucker und Milch hinein. Dann sah sie den Poststapel durch, der sich in den Tagen ihrer Abwesenheit angehäuft hatte.
Sie griff nach dem Brief, der zuoberst lag, und schlitzte ihn mit dem vergilbten elfenbeinernen Brieföffner, der schon ihrer Mutter gehört hatte, auf. Langsam entfaltete sie das Schreiben. Das Lächeln auf ihrem Gesicht wich einem verwunderten Ausdruck. Sie las den Brief ein zweites und ein drittes Mal. Dann griff sie nach dem Telefon und wählte die Nummer des Pfarrhauses. Sie ließ es mehrfach klingeln, doch am anderen Ende nahm niemand ab.
Das war so ungewöhnlich, dass Madame Moulin beschloss, nach dem Rechten zu sehen und Vikar McLean einen Besuch abzustatten. Sie musste ihm von Lucys Brief erzählen und ihn um Rat fragen.
Sie erinnerte sich deutlich an seine Worte. Es erschien ihr unmöglich, dass seit jener Nacht so viele Jahre vergangen waren.
Es hatte gestürmt und geregnet und Ralph hatte mit diesem winzigen Bündel vor ihrer Tür gestanden und sie angefleht, sich des Kindes anzunehmen. Ein Blick in die ungewöhnlichen Augen des Mädchens hatte genügt. Madame Moulin, deren oberstes Gebot es war, zu den Kindern, die sie betreute, emotionale Distanz zu wahren, wusste, dass sie dieses Mädchen lieben würde.
»Es ist möglich, dass der Tag kommt, dass dem Kind etwas Ungewöhnliches passiert, dann zögere nicht und komm zu mir«, trug er ihr auf. »Bis dahin werde ich mich von euch fernhalten und beten, dass dieser Tag nicht kommen möge.« Er strich dem Kind über die Wange und sah es mitleidig an. »Möge Gott der Herr über dich wachen, Lucy Guardian«, sagte er und eilte davon. Seitdem hatten sie jedes Gespräch über Lucy vermieden, obwohl Madame Moulin regelmäßig mit den Kindern des Hauses seinen Gottesdienst besuchte.
Es war ihr immer klar gewesen, dass es ein Geheimnis um Lucy gab, das nicht gelüftet werden sollte. Doch nun war etwas mit Lucy passiert und der Ton in dem Brief verlangte dringliche Maßnahmen.
Madame Moulin ging in die Küche, um Anweisungen für die Vorbereitung des Mittagessens zu geben. Dann holte sie ihren dunklen Mantel und schlang sich ein Tuch um Kopf und Hals. Sorgfältig schloss sie die Tür des alten Hauses. Grüner Efeu wuchs die Mauern hinauf und umrankte die Torbögen und Simse der Fenster. Der Gärtner würde die Ranken bald zurückschneiden müssen, überlegte sie, während sie die Straße zum Pfarrhaus entlanglief. Sie sah kurz auf, als eine dunkle Limousine mit getönten Scheiben gemächlich an ihr vorbeifuhr. Da hatte sich offenbar jemand in ihr Dorf verirrt.
Vor dem Pfarrhaus blieb sie stehen und drückte auf den altmodischen Klingelknopf. Ein dumpfer Gong ertönte. Madame Moulin zog das Tuch fester um sich. Es war kalt. Der Herbst hielt jeden Tag mehr Einzug.
Greta öffnete die Tür. Aufgelöst sah sie den Gast an.
»Alles in Ordnung, Greta?«, fragte Madame Moulin. Diese schüttelte den Kopf und stammelte: »Es ist eingebrochen worden. Ich bin ganz sicher. Die Diebe haben das Arbeitszimmer des Herrn Vikar durchsucht. Ich glaube nicht, dass sie etwas gefunden haben. Der Vikar besitzt doch nichts von Wert. Aber was soll ich nur tun? Ich habe Frank angerufen. Er wird wissen, was zu tun ist.« Nervös knüllte die ältere Frau ein Küchentuch in den Händen. »Ob das richtig war? Oder hätte ich auf den Vikar warten sollen? Aber er geht nicht an sein Handy und ich bin nicht sicher, wo er ist.« Hilfe suchend sah sie Madame Moulin an.
Diese nickte, nahm Greta am Arm und schob sie ins Haus. »Das war genau richtig«, beruhigte sie die Haushälterin. »Wir trinken jetzt einen Tee und warten gemeinsam auf Frank. Er wird den Vorfall aufnehmen und seinen Vorgesetzten melden. Sorgen Sie sich nicht. Vikar McLean wird dankbar sein, dass alles erledigt ist, wenn er zurückkommt.«
»Meinen Sie wirklich«, fragte Greta unsicher. »Er mag es nicht, wenn jemand in seinem Arbeitszimmer herumstöbert. Selbst ich darf nur hinein, wenn er dabei ist. Und richtig sauber machen darf ich im Grunde auch nicht. Ich bin froh, wenn ich es schaffe, die Teeränder vom Schreibtisch zu
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