Woerter durchfluten die Zeit
handeln. Es war immer noch seine Aufgabe, Lucy zu schützen.
Nach dem Gottesdienst rannte er zum Pfarrhaus. Eine Gangart, die einem Priester nicht angemessen war. Die alten Damen schüttelten ihre grauen Köpfe über sein Benehmen. Im Pfarrgarten sah er sich um. Die fremden Männer waren nirgendwo zu sehen. Hatten sie ihm geglaubt?
Das schwarze Auto, das auf der anderen Straßenseite von den Büschen verborgen stand, sah er nicht.
Hastig ging er ins Haus und geradewegs in sein Arbeitszimmer. Er ignorierte den dampfenden Tee, den seine Haushälterin ihm jeden Morgen auf den Tisch stellte.
Aus einem gut sortierten Regal nahm er mehrere Bücher. Dahinter kam ein kleiner Safe zum Vorschein. Er öffnete ihn mit einem Schlüssel, den er seit nunmehr siebzehn Jahren um den Hals trug. Vorsichtig hob er eine kleine Schatulle heraus, die darin verborgen war. Er durfte das Geheimnis nicht länger für sich behalten. Er öffnete das Kästchen und entnahm ihm ein Medaillon und einen Brief. Es war augenscheinlich nichts Besonderes an den Dingen und doch würden sie Lucys Leben auf den Kopf stellen. Er hätte es sich für das Mädchen anders gewünscht. Täglich betete er für sie, dass Gott sich erbarmen und ihr diese Prüfung ersparen möge. Doch Gott hatte ihn nicht erhört.
Der Vikar griff nach einem Umschlag und schrieb die Adresse des Kinderheimes darauf. Dann verfasste er eine kurze Nachricht an Madame Moulin und steckte diese mit dem Medaillon und dem alten, zerknitterten Brief in den Umschlag.
Er ging in die Küche, wo seine Haushälterin gerade sein Frühstück vorbereitete.
»Ich möchte heute nichts essen, Greta«, sagte er zu ihr und versuchte seine Stimme fest klingen zu lassen.
Erstaunt sah diese ihn an. Der Vikar liebte ihr Rührei.
»Mir geht es gut«, erklärte er. »Sie brauchen sich nicht zu sorgen. Ich hab nur einen wichtigen Termin.«
Greta nickte.
»Ich muss Sie allerdings um etwas bitten. Es ist sehr wichtig. Dieser Umschlag muss sofort zur Post. Würden Sie das für mich tun?"
»Selbstverständlich, Herr Vikar«, antwortete Greta und wischte sich die Hände an ihrer Schürze ab. Sie nahm den Brief entgegen.
»Das Kinderheim?«, fragte sie verwundert, als sie einen Blick auf die Adresse warf. »Ich kann den Brief sofort hinbringen, wenn es so eilig ist. Ich komme auf dem Weg zur Post dort vorbei.«
»Nein. Nein, bitte tun Sie das nicht«, wehrte der Vikar ab. »Im Flur liegen noch mehr Briefe und Päckchen. Bringen Sie bitte einfach alles zur Post.«
»Gut«, erklärte Greta sich zögernd bereit, obwohl ihr das Verhalten des Vikars merkwürdig erschien. Doch sie hatte gelernt, nicht zu viele Fragen zu stellen.
Vikar McLean griff nach seiner Jacke und seinem Autoschlüssel, der im Flur lag. Ohne ein Wort des Abschieds eilte er hinaus.
Greta kratzte sich am Kopf. Der Vikar verhielt sich heute sehr eigenartig. Ob jemand gestorben war? Aber das hätte sie doch längst erfahren. Sie nahm die Eier vom Herd und griff nach ihrem Korb. Sorgfältig stapelte sie die Briefe und Päckchen hinein. Dann trat sie nach draußen und verschloss die Tür. Ihr Fahrrad lehnte am Zaun. Ein Lied vor sich hin summend befestigte sie den Korb auf dem Sattel und fuhr davon. Durch den Garten schlich ein schwarzer Schatten, der die Terrassentür zum Arbeitszimmer in Sekundenschnelle aufhebelte.
Vikar McLean raste die eichengesäumte Allee entlang. Immer wieder sah er in den Rückspiegel. Er war allein auf der Straße. Inständig hoffte er, dass sein Manöver gelingen würde und Greta den Brief zur Post schaffen konnte, ohne dass es jemand bemerkte.
Der schwarze Wagen hinter ihm erschien wie aus dem Nichts. Der Vikar gab noch mehr Gas. Den ölig schimmernden Fleck auf der Fahrbahn übersah er. Der Wagen geriet ins Schleudern und drehte sich um seine eigene Achse. Er versuchte Herr der Lage zu werden, doch der Wagen gehorchte ihm nicht mehr. Verzweifelt klammerte er sich an das Lenkrad und trat auf die Bremse. Entsetzt sah er, dass eins seiner Vorderräder über die Straße rollte. Der Wagen kippte zur Seite, schlitterte auf einen der alten Bäume zu und krachte mit unverminderter Geschwindigkeit dagegen. Der Kopf des Vikars wurde zurückgeschleudert und weiße Lichter flammten in seinem Kopf auf, bevor alles um ihn herum dunkel wurde.
In Büchern liegt die Seele
aller gewesenen Zeit.
Thomas Carlyle
8. Kapitel
Madame Moulin atmete tief durch. Jeder Morgen folgte demselben Ritual.
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