Woerter durchfluten die Zeit
überfüllt, als Lucy zur Vorlesung kam. Suchend fuhr ihr Blick über die Köpfe der Studenten. Enttäuschung breitete sich in ihr aus, als sie Nathan nicht entdeckte, und sie fragte sich, ob sie nicht lieber wieder gehen sollte.
»Suchst du nach mir?«, hörte sie Nathans Stimme an ihrem Ohr.
Ein Schauer lief ihr über den Nacken. Bevor sie antworten konnte, legte er eine Hand auf ihren Rücken und schob sie zu ihrem Fensterplatz. Ihre Haut kribbelte unter der Berührung.
»Den wird uns dieses Jahr keiner streitig machen«, flüsterte er. »Es sein denn, es ist dir hier zu eng mit mir.«
Er sah sie an und Schalk blitzte in seinen Augen.
»Ich werde es überleben«, antwortete sie.
»Gut«, erwiderte Nathan und half ihr aus ihrer Jacke.
Lucy kritzelte während der Vorlesung auf ihrem Block herum und versuchte dabei, den Ausführungen Dr. Wyatts über die Bedeutung historischer Romane im viktorianischen Zeitalter zu folgen. Selbst als er begann, dies am Roman Ivanhoe von Walter Scott zu verdeutlichen, fiel es ihr schwer, sich zu konzentrieren. Zu deutlich spürte sie Nathan neben sich. Ob er heute noch etwas vorhatte? Sie könnte ihn fragen, ob er etwas mit ihr essen gehen wollte. Vielleicht würde es auch ein Kaffee bei Starbucks tun. Jules und Colin waren heute Abend nicht da und sie verspürte keine Lust, den Abend allein in der Wohnung zu verbringen.
Ihre Gedanken drehten sich im Kreis. Sie würde mit ihm über ihr Problem reden. Problem war vielleicht nicht das richtige Wort dafür. Vielleicht konnte er ihr helfen. Wenn es sich nur nicht so komisch anfühlen würde, wenn sie darüber nachdachte. Lucy kaute auf ihrem Stift herum.
»Mach ihn nicht kaputt«, raunte Nathan und zwinkerte ihr zu. »Er hat dir nichts getan.«
Sie hatte noch keine Zeit gehabt, andere Bücher aufzustöbern, die verschwunden waren. Aber sie war sicher, dass es weitere gab. Gleich morgen würde sie nach ihnen suchen. Zu dumm, dass die Werke in den Regalen und unterirdischen Räumen nicht alphabetisch sortiert waren. So wurde es schwierig, aufs Geratewohl zu suchen. Die leeren Karteikarten gaben ihr nur wenig Anhaltspunkte, da ja die Signatur und der Hinweis auf den Standort der einzelnen Bände verschwunden waren. Lucy fluchte innerlich. Die Bücher mussten ihr helfen. Aber was sollte sie dann tun? Immerhin war das erst mal ein Plan, auch wenn er noch nicht hundertprozentig zu Ende gedacht war. Vielleicht fand sie ja noch eine logische Erklärung und vielleicht würde Nathan ihr dabei helfen.
»Gehen wir noch einen Kaffee trinken?«, fragte Nathan nach dem Ende der Vorlesung, während er Lucy in die Jacke half.
»Gern«, antwortete sie und band sich ihren Schal um. Sie wertete es als gutes Zeichen, dass er gefragt hatte. Starbucks war zum Glück nicht weit entfernt, doch als sie ankamen, war offensichtlich, dass sie nicht die einzigen Studenten mit dieser Idee gewesen waren. Vor dem Tresen stand eine lange Schlange.
»Da am Fenster sind zwei Barhocker frei. Wenn du dich hinsetzt, hole ich den Kaffee.«
Lucy nickte.
»Ich nehme einen Chai Latte«, rief sie ihm hinterher und drängelte sich zu den Sitzen durch.
Sie hängte ihre Jacke über den einen Hocker und setzte sich selbst auf den zweiten. Während sie die Menschen beobachtete, die draußen durch den kalten Wind liefen, rieb sie sich die Hände. Lucy hoffte, dass es noch einige schöne Sonnentage geben würde. Eigentlich mochte sie den Herbst mit seinen bunten Farben und dem nicht zu warmen und nicht zu kalten Wetter. Hauptsache, es regnete nicht ständig. Dann wurde sie melancholisch und begann sich zurückzusehnen in die Tage ihrer Kindheit.
Wenn das kalte Wetter die letzten Sonnenstrahlen vertrieb, hatte sie am liebsten auf ihrem Bett gelegen und gelesen. Oder Madame Moulin Gesellschaft geleistet. Ihr Büro war Lucy manchmal fast vorgekommen wie ein richtiges Zuhause. Der Kamin hatte geflackert und Martha hatte ihnen Tee oder heiße Schokolade gebracht. Sie redeten über alles, was Lucy bewegte. Meist waren es die Bücher, die sie gerade las. Natürlich versuchte Lucy auch, bei diesen Gelegenheiten etwas über ihre Herkunft zu erfahren. Aber Madame Moulin behauptete stets, nichts zu wissen. Lucy hatte einmal heimlich in ihrer Akte gestöbert, als Madame Moulin aus ihrem Zimmer gerufen worden war, um einen Streit zu schlichten. Sie hatte entdeckt, dass der Vikar sie zum Heim gebracht hatte. Aber sie hatte sich nie getraut, zum Pfarrhaus zu gehen und sich nach den
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