Wofür du stirbst
Sparbuch lag ganz oben in der geöffneten Schublade, wo es sonst nie gelegen hatte, und mir fiel auf, dass alles sauber und ordentlich aufgeräumt war, als habe jemand einmal richtig ausgemistet. Sie musste selbst endlich etwas Ordnung in das Chaos gebracht und es dann vergessen haben.
Sie wird langsam alt und schusselig, dachte ich, als ich ihr das Sparbuch brachte. Bis jetzt war sie immer äußerst fit im Kopf gewesen, auch wenn sie körperlich langsam abbaute. Wie lange würde sie noch alleine in ihrem Haus zurechtkommen, auch wenn ich vorbeikam und nach ihr sah?
Briarstone Chronicle
April
Leichnam der vermissten Rachelle in Haus in Baysbury gefunden
Am Dienstagabend machte die Polizei eine schreckliche Entdeckung, als sie in einer Wohnung in Baysbury Village die verwesten Überreste der einundzwanzigjährigen Rachelle Hudson aus Hampshire fand, die seit vergangenem Dezember vermisst wird.
Die Nachbarn gaben an, die junge Frau sei Anfang des Jahres in die Wohnung gezogen, dann aber offenbar wieder ausgezogen, da sie sie danach nie wieder gesehen hätten. »Wir sind vorbeigekommen, um sie zu begrüßen, sie bat uns aber gar nicht erst herein«, erzählte die dreiunddreißigjährige Paula Newman. »Sie schien sehr beschäftigt zu sein. Danach besuchten wir sie nicht mehr, und als wir sie daraufhin längere Zeit nicht mehr sahen, dachten wir, sie sei wieder ausgezogen. Ich kann gar nicht fassen, dass sie die ganze Zeit da drinnen gelegen hat.«
Miss Hudsons Angehörige erklärten, Rachelle habe das Familienhaus in Fareham nach einem Streit verlassen. Sie hätte seit einiger Zeit an Depressionen gelitten. Weder ist bekannt, weshalb sie nach Baysbury zog, noch wie sie ums Leben kam. Ihre Leiche wurde erst entdeckt, als der Vermieter des Anwesens in der Balham Street die Polizei verständigte, weil er keine Miete mehr erhielt.
Ein Polizeisprecher sagte, »die Polizei wurde zu einer Adresse in Baysbury gerufen, wo sie die Leiche einer jungen Frau in fortgeschrittenem Verwesungszustand gefunden habe. Man geht davon aus, dass sie eines natürlichen Todes gestorben ist.«
Rachelle
In den Zeitungen schrieben sie, niemand wüsste, weshalb und wohin ich gegangen sei. Überall hieß es, dass es völlig untypisch für mich gewesen sei, und dass ich Freunde und ein liebevolles Zuhause gehabt hätte. Sie sagten, jemand müsse mich entführt haben, weil ich von alleine niemals abgehauen wäre. Meine Mutter sagte, ich sei auf ein gutes College gegangen und hätte eine Zukunft, ja das ganze Leben vor mir gehabt. Und sie sagte, ich sei ein wunderschönes Mädchen gewesen und von meiner ganzen Familie geliebt worden.
Das war alles gelogen.
Sie trat im Fernsehen auf; ich habe sie selbst gesehen, wie sie mich unter Tränen anflehte, mich zu melden. Und dann den potenziellen Entführer anflehte, »irgendwer da draußen muss doch wissen, wo meine Rachelle, wo mein Baby ist …« und alle bat, sich mit der Polizei in Verbindung zu setzen, »um eine Mutter zu beruhigen, die vor Sorge fast verrückt wird. Wir können uns kaum vorstellen, was sie gerade durchmacht.«
Mein Baby . Das hat sie tatsächlich so gesagt. Ich saß auf dem Sofa in meiner neuen Wohnung und war total schockiert, als ich plötzlich meine Mutter im Fernsehen sah, wie sie mich anflehte und mich bat, mich bei ihr zu melden. Ich hatte drei Pullover übereinander an, weil mir kalt war und ich zu knapp bei Kasse war, um die Heizung aufzudrehen. Mir war immer kalt, sogar im Sommer.
Das bedeutete natürlich, dass ich danach eine ganze Weile nicht aus dem Haus gehen konnte. Ich war den Nachbarn bereits einmal über den Weg gelaufen und hoffte, sie würden mich nicht wiedererkennen. Ich hatte meine Haare schwarz gefärbt, sie fransig geschnitten – das war nicht ganz einfach, vor allem am Hinterkopf, aber besser als nichts, denn immerhin war mein Haar dick genug, sodass man die verschnittenen Stellen nicht wirklich sah. Mit ein wenig Make-up um die Augen sah ich wie ein richtiger Emo aus. Ich bezweifle, dass mich meine leibliche Mutter erkannt hätte, andrerseits war es ihr ja noch vor meinem neuen Styling schon schwer genug gefallen, mich anzusehen.
Nach zwei Monaten hier gingen mir die Medikamente aus, aber ich konnte mir ja nicht einfach so einen Arzttermin geben lassen. Also nahm ich einfach keine, das ging auch. Ich hatte die ärztlich verordnete Gefühllosigkeit sowieso satt. Wenigstens wusste ich, woran ich war, wenn die schwarze Wolke über mir hing.
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