Wofür du stirbst
meine Mutter genauso anspricht. Es amüsiert mich, wenn ich daran denke, dass meine Mutter sich nicht dagegen wehren kann.
»Ja, am Apparat«, sagte ich scheinheilig.
»Mr. Friedland, hier spricht die Oberin. Vom Pflegeheim Larches.«
»Ja«, sagte ich erneut.
»Ihrer Mutter geht es den Umständen entsprechend gut, Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen.«
»Oh, sehr schön«, sagte ich.
»Trotzdem, Sie fehlen ihr schrecklich.«
Das glaube ich kaum, dachte ich. »Ach? Sind Sie sicher, dass sie überhaupt weiß, wo sie ist?«
»Hin und wieder. Sie hat durchaus klare Momente. Und in denen scheint sie Sie besonders zu vermissen. Sie haben sie schon so lange nicht mehr besucht, Mr. Friedland.«
»Ich hatte sehr viel zu tun«, sagte ich. »Die Arbeit, verstehen Sie.«
»Und an den Wochenenden?«
»Also gut, ich werde mal sehen, ob ich es am Sonntag schaffe, in Ordnung? Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen wollen, ich habe noch was zu erledigen.«
»Natürlich, natürlich. Wir sehen Sie dann.«
Verdammtes Frauenzimmer! Hat mir mit ihrem Geschwätz einen angenehmen Abend ruiniert. Was soll es schon bringen, wenn ich meine Mutter besuche? Die Chancen, dass sie während der halben Stunde meiner Anwesenheit einen klaren Moment hat, sind verschwindend gering. Und die Vorstellung, dass sie tatsächlich einen klaren Moment haben könnte, ist mir so unerträglich, dass ich ihn gar nicht in Erwägung ziehen möchte; was haben wir uns nach all der Zeit überhaupt zu sagen? Trotzdem werde ich vielleicht am Sonntag hinfahren, wenn auch nur, damit dieses schreckliche Frauenzimmer mich wenigstens eine Zeit lang nicht mehr belästigt.
Inzwischen ruft sie nicht mehr so oft an wie früher. Letztes Jahr, als meine Mutter den Schlaganfall bekam und damit ihre Fähigkeit verlor, wie ein erwachsener Mensch zu funktionieren, war das Pflegeheim ganz scharf darauf gewesen, sie aufzunehmen. Ich fand schnell eine Gesetzeslücke in den Paragrafen bezüglich schwerer Pflegefälle und sorgte dafür, dass die Kosten vollständig von der Krankenkasse übernommen wurden. Danach schien das Pflegeheim nicht mehr so scharf auf sie zu sein. Warum, weiß ich auch nicht – immerhin würden sie ihr Geld doch ganz genauso erhalten, sogar noch zuverlässiger, denn diese spezielle Geldquelle würde so schnell nicht versiegen. Ich habe eher das Gefühl, dass sie nur mit mir in Kontakt bleiben wollen, damit sie mehr Geld für Dinge aus mir herauspressen könnten, die von der Kasse nicht übernommen werden. Doch wozu soll ein Flachbildfernseher im Zimmer meiner Mutter gut sein, wenn der im Aufenthaltsraum einwandfrei funktioniert und sie dort fernsehen kann, wann immer sie Lust dazu hat? Wozu braucht sie Schuhe, wenn sie sowieso keinen Fuß vor die Tür setzt?
Ich habe einmal versucht, all das der Oberin zu erklären, doch diese wurde daraufhin äußerst ungehalten. Seit diesem Gespräch – das damit endete, dass sie in unnötig sarkastischem Ton zu mir sagte, ich solle meine Mutter öfter mal besuchen – ließ ich das Telefon klingeln, wenn ich die Nummer des Pflegeheimes auf dem Display sah. Kurze Zeit später machte sie sich nicht einmal mehr die Mühe, mir eine Nachricht zu hinterlassen.
Im Prinzip habe ich nichts dagegen, meine Mutter zu besuchen. Genau genommen freue ich mich gelegentlich sogar darauf – eine schöne Fahrt ins Grüne an einem sonnigen Wochenende, wobei ich ihr Schokolade auf dem Weg kaufe und sie dann in ihrem Zimmer esse; sie darf ja keine Schokolade essen, nicht wahr? –, aber ich lehne es kategorisch ab, mir von einer vertrockneten Oberin sagen zu lassen, wann ich das zu tun habe.
Genauso wie ich es ablehne, mir von irgendjemandem vorschreiben zu lassen, was ich zu tun habe.
Jedenfalls habe ich für das Wochenende Pläne und gehe davon aus, dass ich ziemlich beschäftigt sein werde. So viele meiner Forschungsprojekte tragen langsam Früchte – wunderbare Verwandlungen stehen bevor, die ich nicht verpassen darf.
Briarstone Chronicle
August
Tod eines Pianisten »eine Tragödie«
Vergangenen Sonntag wurde in Catswood die Leiche des ehemaligen Pianisten Noel Gardiner in der Wohnung gefunden, in der er mit seinem Partner, dem Sänger Larry Scott, gelebt hatte. Nach Aussage der Polizei hatte die Leiche von Mr. Gardiner bereits eine ganze Weile unentdeckt dort gelegen.
Der Chronicle hatte bereits im Mai über den Herztod des neunundfünfzigjährigen Mr. Scott berichtet. Freunde des Paares gaben gestern zu
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