Wofür du stirbst
beugte mich näher zu ihr vor. Er schrieb, notierte sich alles. Ich zeigte auf die nächste Zeile im Text, sie las sie folgsam vor: »Soll ich es wiederholen.« Das sollte eigentlich eine Frage sein, doch ihre Stimme klang flach.
»Wo sind die anderen? Und wer spricht da, bitte? Wie heißen Sie?«
»Soll ich es wiederholen.«
»Nein, nein – ich würde nur gerne wissen, mit wem ich spreche. Wie heißen Sie?«
Ich drückte den Knopf auf dem Telefon und unterbrach die Verbindung. Sam Everett würde abgesehen von mir der Letzte sein, mit dem sie in diesem Leben sprechen würde. Doch dessen war sie sich überhaupt nicht bewusst. Hätte ich ihr das so gesagt, hätte sie das auch nicht weiter interessiert.
»Gut gemacht«, sagte ich und legte das Telefon wieder auf die Ladestation. »Das hast du gut gemacht.«
Sie sah mich an. Zu einer anderen Zeit an einem anderen Ort hätte sie vielleicht gelächelt, doch jetzt war sie müde, unglaublich erschöpft von der Anstrengung und der Konzentration auf diese wenigen Anweisungen. Sie fiel zurück aufs Bett.
»Ich bin müde«, sagte sie. »Und ich habe Kopfschmerzen.«
»Ich weiß«, sagte ich. »Du kannst jetzt schlafen, wenn du willst.«
»Ja«, sagte sie
Sie war wunderschön, so an der Schwelle des Todes, ganz darin verwurzelt, erfüllt davon. Sie verspürte keinen Schmerz, keine Wut, keine Angst. Sie näherte sich dem Tod, wie sich jeder dem Tod nähern sollte, anmutig und in Frieden, sie nahm ihn an. Das Wasser, an dem sie genippt hatte, schien den Prozess nicht aufgehalten zu haben, wie ich zuerst gedacht hatte. Sie war schon zu weit auf dem Weg vorangeschritten.
»Jetzt«, sagte ich und berührte ihren Arm, »bist du bereit. Du weißt, was du zu tun hast.«
»Schlafen«, sagte sie.
»Richtig«, sagte ich. »Du gehst jetzt schlafen. Es ist an der Zeit.«
Bevor ich das Haus verließ, wischte ich alle Oberflächen ab, mit denen ich eventuell in Berührung gekommen war, obwohl ich die ganze Zeit Latexhandschuhe getragen hatte. Sie hatte sie nicht bemerkt, hatte sie nicht einmal neugierig angesehen. Ich weiß auch nicht, warum ich mir die Mühe machte, sie anzuziehen. Sie hatte mich ja eingeladen und hatte nichts gegen meine Gegenwart. Nicht einmal in diesen Augenblicken.
Ich blieb an der Hintertür stehen und blickte zum Haus zurück. Der Nächste, der durch diese Tür kam, würde sie finden. Bestimmt verfolgten sie den Anruf zurück und würden nach ihr sehen. Wenn sie nur ein wenig Grips hatten, würden sie sie noch frisch vorfinden. Es bestand natürlich die Möglichkeit, dass man sie eventuell zu schnell entdeckte, noch bevor sie starb. Das war ein Risiko. Aber sehr wahrscheinlich würden sie zuerst zu der Adresse fahren, die sie angegeben hatte, und sie hatte sowieso nur noch ein paar Stunden zu leben. Sie würden diese menschlichen Überreste finden, bevor sie so wie die anderen die Möglichkeit hatte, sich zu verwandeln. Das ist Pech für sie, und es ist eine Schande, wenn ich bedenke, was für eine große Hilfe sie mir heute gewesen ist. Außerdem würde ich der Verwandlung nicht zusehen und sie dokumentieren können. Trotzdem hatte ich keine andere Wahl, und schließlich würde ich andere Vorteile daraus ziehen.
Aufgrund der Aufregung an diesem Abend bin ich im Fitnessstudio zu abgelenkt, um mich auf meine Ziele zu konzentrieren. Ich absolviere mein übliches Trainingsprogramm, dreißig Minuten an jedem Gerät, aber für meine dreißig Bahnen im Schwimmbecken brauche ich fast dreiundzwanzig Minuten. Im Fitnessstudio konnte ich noch zum dröhnenden Beat aus den Boxen und den rhythmischen Bewegungen des Frauenhinterns auf dem Laufband vor mir abschalten, doch hier im Schwimmbecken muss ich ständig an Sam Everett denken und daran, was er wohl mit der Information anfangen würde. Es ist sehr verlockend, einen Umweg über die Hawthorn Crescent zu nehmen, doch stattdessen schwimme ich meine Bahnen zu Ende und fahre nach Hause.
Noch ehe ich meine Lebensmittel ausgepackt habe, überwältigt mich die Aufregung. Mit zitternden Händen ziehe ich die Zeitung aus der Plastiktüte. Ich war in meinem ganzen Leben noch nie so erregt. Die Erregung, jemanden in ein Geheimnis einzuweihen, selbst wenn es nicht das ganze Geheimnis war und nicht ich es erzählt habe, verdrängte nun völlig den Nervenkitzel, jemanden zurückzulassen, damit er sich verwandeln konnte.
Ich will es am liebsten in die Welt hinausschreien, doch dann würde das Geheimnis seinen Reiz verlieren
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