Wofür du stirbst
an, niemand ging dran. Ich überlegte, ob ich schon zu spät kam, doch da ich schon einmal in der Nähe des Hauses war, ging ich trotzdem hin. Die Hintertür stand offen, also ging ich, ohne anzuklopfen oder zu rufen, hinein.
Sie lag auf dem Bett und schlief, ihr Atem klang rau und kratzend. Ich sagte ihren Namen, dann noch einmal, dann etwas lauter.
»Kannst du die Augen öffnen?«
Zuerst erhielt ich keine Antwort. Ihr Atem ging regelmäßig, aber stockend, dann veränderte er sich – es folgten ein paar tiefe Atemzüge mit Pausen dazwischen. Sie war schon sehr weit.
Ich überlegte, was zu tun war, ob ich es alleine hinbekam – schließlich war wichtig, dass ich mich hier befand. Außerdem konnte ich immer noch im Falsett sprechen. Es war trotzdem frustrierend. Von dem Moment an, als mir die Idee gekommen war, hatte sich meine Vorfreude immer weiter gesteigert, und jetzt, als ich so nahe dran war, hielt ich es kaum mehr aus.
Doch zu meiner Überraschung rührte sie sich. Hob langsam ihren Kopf. »Kannst du dich aufsetzen?«, fragte ich, legte meine Hand unter ihren Arm und half ihr auf. Sie glühte, ihre Haut fühlte sich an wie Papier.
Es dauerte eine Weile, bis sie so weit war, doch schließlich benötigte ich ihre Aufmerksamkeit auch nur einen kurzen Moment. Ihre Augen glänzten; sie waren das Einzige an ihr, was noch Feuchtigkeit besaß: Ihre Lippen waren spröde, und ihr Haar hing in trockenen Strähnen an ihrem Gesicht herunter.
»Hier«, sagte ich. »Nimm den Zettel. Glaubst du, du kannst ihn lesen?«
Sie sah verwirrt auf das Blatt, dann verfinsterte sich ihr Blick. »Ich verstehe nicht.«
Das hatte ich erwartet. Sie war nicht mehr bei Verstand.
»Hast du heute etwas getrunken?«
Sie sah mich verdutzt an. »Ich verstehe nicht.«
O mein Gott, dachte ich. Das war die Kehrseite der Medaille, wenn man ihnen allen Lebensmut, jegliche Handlungsfähigkeit genommen hatte. Dann brauchten sie gezielte Anordnungen, man musste von vagen, metaphorischen Ausdrucksweisen und erklärenden Anekdoten zu direkten Anweisungen übergehen.
Ich ging in die Küche und drehte den Wasserhahn auf. Das Wasser plätscherte in das Spülbecken und verursachte dabei ein metallen blechernes Geräusch. Es war bereits das Geräusch eines leeren Hauses, auch wenn sie noch da war. Sie war noch nicht gegangen, und doch wurde ihre Anwesenheit immer schwächer. Ich nahm eine Tasse, füllte sie zur Hälfte mit Wasser und brachte sie ihr – wenn sie zu viel bekam, würde ihr übel werden, was den Prozess gefährdete.
»Trink das«, sagte ich.
Ich reichte ihr die Tasse und half ihr, sie aufrecht zu halten. Sie trank gehorsam, aber unkoordiniert ein paar Schlucke. Wasser rann seitlich aus ihren Mundwinkeln und tropfte auf ihr Kleid. Dann wandte sie ihr Gesicht ab. Sie hat genug, dachte ich. Vermutlich stand sie kurz vor dem Übergang. Freundlich nahm ich ihr die Tasse aus den Händen und stellte sie außer Sichtweite auf den Boden.
»Schau dir jetzt den Zettel an, kannst du lesen, was draufsteht?«
»›Ich möchte etwas Wichtiges sagen …‹«, rezitierte sie.
»Sehr gut«, sagte ich. »Jetzt warte. Ich rufe eine Nummer an, und sobald jemand drangeht, liest du vor, was auf dem Zettel steht. Verstanden?«
Sie gab mir zuerst keine Antwort. Ich berührte ihren Arm, sie zuckte zurück und sagte dann unsicher: »Ja.«
»Sehr gut«, sagte ich. »Dann los.«
Ich wählte die Nummer für sie und hielt ihr das Telefon ans Ohr. Zuerst wollte ich auf Lautsprecher stellen, um am anderen Ende die Reaktion zu hören, doch im Haus war es so still, dass ich den Klingelton am anderen Ende auch so hörte. Egal was sie sagten, ich würde es mitbekommen.
»Nachrichtenredaktion?«
Ich berührte ermunternd ihren Arm, doch wahrscheinlich hätte es das gar nicht gebraucht.
»Hallo«, sagte sie mit wunderschöner, gleichmäßiger Stimme. »Ich möchte bitte mit Sam Everett sprechen.«
»Am Apparat. Was kann ich für Sie tun?«
»Ich muss Ihnen etwas Wichtiges mitteilen. Es gibt noch mehr Leichen«, sagte sie, als kündigte sie die Einfahrt eines Zuges auf Gleis sieben an. »Eine liegt –«
»Warten Sie«, sagte Sam Everett am anderen Ende der Leitung. »Warten Sie einen Augenblick. Ich muss mir das aufschreiben.«
Sie hielt ein paar Sekunden lang inne. »Es gibt noch mehr Leichen«, sagte sie dann mit teilnahmsloser Stimme. »Eine in 36 Hawthorn Crescent, Carnhurst. Und es gibt noch andere.«
Am anderen Ende der Leitung war es still, ich
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