Wofür du stirbst
»Glauben Sie, dass irgendwer sich der Sache annehmen wird? Das ist bereits die vierundzwanzigste Leiche. Die nächste wird nicht lange auf sich warten lassen. Da draußen liegen noch viele Leute rum und warten, dass wir sie finden. Das ist Ihnen doch klar, nicht wahr?«
»Nein«, sagte er. »Nichts deutet darauf hin, dass wir noch weitere finden werden.«
Ich biss mir auf die Lippe. Das war alles so frustrierend – erst kurz zuvor hatte ich noch gedacht, zumindest er wäre auf meiner Seite. Ich dachte, wenn die anderen schon nichts kapierten, dann wenigstens er. Er wusste, dass sich dieses Problem nicht einfach von alleine erledigen würde.
»Sie wissen selbst, dass da irgendetwas nicht stimmt«, sagte ich.
Er sah mir in die Augen. »Falls ich heute die Gelegenheit bekomme, werde ich die Sache in der Chefetage noch einmal ansprechen, in Ordnung?«
Mit der »Chefetage« meinte er wohl irgendwen von der Polizeidirektion – den Dienststellenleiter oder jemanden von den Chefermittlern. Sie alle hatten meine Präsentation bei der Lagebesprechung gesehen. Sie hatten die Daten. Wenn sie das nicht überzeugen konnte, konnte sie nichts überzeugen.
»Überlassen Sie das mir«, sagte er in einem Ton, der eine Verabschiedung nahelegte.
»In Ordnung«, sagte ich. »Danke.«
Ich stand auf, um zu gehen. Er hatte sich bereits wieder seinem Computer zugewandt, und ich fragte mich, ob er sich in fünf Minuten überhaupt noch an meinen Besuch erinnern würde.
Auf der Heimfahrt schloss ich im Bus die Augen und lehnte meinen Kopf an das kalte Fenster. Ich hatte länger als sonst gearbeitet und versucht, die Zeit wiedergutzumachen, die ich am Morgen verloren hatte.
Die Lagebesprechung hatte sich verzögert, aber das war nicht allein meine Schuld; ein Systemausfall in der Zentrale hatte dafür gesorgt, dass wir vorübergehend keinen Zugriff auf die Hauptdatenbank hatten.
Es war ein langer, zermürbender Tag gewesen, und langsam kehrten auch meine Kopfschmerzen wieder zurück. Aber noch schlimmer war, dass, als ich kaum im Bus saß und nach meinem Parkschein suchte, den ich unerklärlicherweise verlegt hatte, mein Handy klingelte. Einen Augenblick dachte ich, es könnte wieder Sam Everett sein, also versuchte ich mir die passenden Worte zurechtzulegen, um ihm klarzumachen, dass ich an einer Zusammenarbeit nicht interessiert war – doch dann war mal wieder meine Mom dran und diktierte mir eine Einkaufsliste mit Sachen, die sie brauchte und die ich mir mit einem schwarzen Stift, von dem ich hoffte, dass er wasserfest wäre, auf die Hand schrieb. Zucker, Milch, tiefgekühlte Erbsen, Kartoffeln, Limonade, Sahne, Teebeutel.
»Du klingst so matt. Warum klingst du so matt?«
»Ich sitze im Bus, Mom. Ich komme gerade von der Arbeit.«
»Warum so spät?«
»Ich hatte heute Morgen Kopfschmerzen und fühlte mich nicht wohl. Ich bin später zur Arbeit gegangen.«
»Du bist später zur Arbeit gegangen? Wie wäre es mit ein paar Schmerztabletten und ein wenig Durchhaltevermögen? Aber du hast kein Durchhaltevermögen. Außerdem ernährst du dich nicht gesund. Zu viel Zucker, zu viel Fett, das ist dein Problem.«
»Ja, Mom«, sagte ich. Es war leichter, ihr recht zu geben. »Kann ich dir die Sachen auch morgen besorgen? Du brauchst sie ja nicht so dringend, oder?«
»Ich hätte außerdem gerne eine Flasche Weißwein. Du hast mir letzte Woche einen mitgebracht, der war sehr gut.«
»Ich besorge dir einen, wenn ich morgen von der Arbeit komme, in Ordnung? Ich kaufe einen beim Co-op.«
»Du solltest mehr Verantwortungsbewusstsein an den Tag legen. Was willst du denn machen, wenn in ein paar Wochen die Uhren zurückgestellt werden? Dann wirst du zu nichts mehr taugen.«
Ich hätte ihr erzählen können, dass ich seit September vor Morgengrauen aufstehe, aber das hätte auch nichts gebracht – sie hörte sowieso nicht zu.
»Du brauchst die Sachen nicht heute Abend, oder?«
»Doch, allerdings. Außerdem kann ich nicht in die Küche gehen, mein Knie macht mir heute zu schaffen. Ich habe nichts zu Mittag gegessen, ich habe seit gestern Abend weder etwas gegessen noch etwas getrunken. Du weißt ja, dass ich wegen der Tabletten was essen muss, sonst wird mir ganz komisch.«
Sie sollte wegen der Tabletten auch keinen Alkohol trinken, doch das schien sie verdrängt zu haben. Ich sagte ihr, dass ich in etwa einer Stunde bei ihr wäre. Damit war sie zufrieden und legte auf.
Ich spürte, wie mein Kopf zu hämmern begann, und die Müdigkeit
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