Wofür du stirbst
den Flur zurück und ließ mich an der Schwelle stehen. Unangenehmer Essensgeruch wehte warm zu mir heraus. Der Flur wirkte neu eingerichtet und hatte eine seltsam pelzige Tapete mit Prägedruck an den Wänden – wie nannte man so etwas noch?
»Hier, da wären wir«, sagte er und kam wieder den Flur entlang. Er zog einen Sicherheitsschlüssel von einem Schlüsselbund, an dem noch verschiedene andere Schlüssel hingen. Ich fragte mich, ob es sein normaler Schlüsselbund war oder ob er die Schlüssel zu allen möglichen Häusern sammelte.
Ich streckte meine Hand aus, und er drückte mir den Schlüssel so fest in die Handfläche, dass es schmerzte.
»Len, da wäre noch etwas«, sagte ich und fürchtete mich vor dem, was ich zu sagen hatte, wusste aber, dass ich es tun musste. »Weißt du, ob der Fensterputzer diese Woche da war? Oder irgendwer sonst, dem Mom Geld gegeben haben könnte?«
»Nein, Ted kommt normalerweise in der ersten Woche des Monats. Warum?«
Also schön, er hat gefragt, dachte ich. »Mom hatte etwas Geld in einer Teedose, aber das meiste ist verschwunden. Als ich das letzte Mal bei ihr war, war es noch da. Haben Sie vielleicht eine Ahnung, wo es sein könnte?«
Ich sagte das ganz beiläufig, und obwohl er sich bemühte, den netten älteren Nachbarn zu spielen, sah er mich misstrauisch an.
»Wir haben am Montag für sie eingekauft«, sagte er. »Wir hatten ihr gesagt, dass wir in die Stadt fahren, sie wollte ein paar Kleinigkeiten. Sie hat mir Geld gegeben, ich habe ihr den Kassenzettel gebracht. Haben Sie ihn nicht gefunden?«
»Was für Sachen?«
»Hmm. Na ja, lassen Sie mich mal überlegen. Sie wollte ein Steak vom Metzger. Und Batterien für das schnurlose Telefon … ach ja, drei Mäppchen Sonderbriefmarken. Und noch was anderes … Ich kann mich nicht mehr an alles erinnern.«
Ich blickte auf den Schlüssel in meiner Hand und überlegte, ob ich diese Diskussion wirklich führen wollte. Es ging doch nur um fünfzig Kröten. »Danke, Len«, sagte ich. »Ich weiß, dass Mom es wirklich zu schätzen wusste, was Sie für sie getan haben.«
»Schon gut«, sagte er. »Sie wissen ja, wir helfen jederzeit gerne. Jederzeit, meine Liebe. Sind Sie sicher, dass wir nicht hin und wieder drüben nachsehen sollen?«
»Nein, danke«, sagte ich. »Ich muss für die Post sowieso einen Nachsendeauftrag beantragen.« Ich wusste nicht, ob man das auch für verstorbene Personen veranlassen konnte, wollte aber auch nicht, dass er nach einer Ausrede suchte, um wieder an den Schlüssel zu gelangen.
»Sind Sie sicher? Also, wir könnten jederzeit …«
»Nein, Len, ehrlich, Sie haben schon genug getan. Danke.«
Ich drehte mich um und eilte den Weg zurück zu meinem Wagen. Es war dunkel und kalt, ich wollte nur noch nach Hause, die Tür hinter mir schließen und alleine sein, wo mich niemand sah.
Colin
Ich konnte mich heute nicht auf die Arbeit konzentrieren; sie erschien mir unfassbar langweilig. Mir ist, als ginge mich das alles nichts mehr an, als hätte ich aufregendere Aufgaben vor mir als den Haushalt der Gemeinde.
Ich dachte stets, Geduld sei eine meiner größten Tugenden. Im Jahr nach dem Tod meines Vaters hatte ich Mühe, mich mit der Schule zu befassen. Alles erschien mir so furchtbar sinnlos. Immer wieder kam bekam ich Ärger, obwohl ich nie störte. Wenn mich ein Thema nicht interessierte, saß ich im Klassenzimmer und starrte geduldig und niedergeschlagen vor mich hin, ganz egal, womit sich der Rest der Klasse beschäftigte.
»Friedland«, sagte dann der Lehrer, »willst du es nicht wenigstens versuchen?«
»Nein«, sagte ich dann, falls ich überhaupt eine Antwort gab.
»Nein, Sir. «
Dann starrte ich zurück, was als Unverfrorenheit angesehen wurde. Von meiner Seite war es lediglich Gleichgültigkeit.
»Das war’s, jetzt reicht’s. Ab zum Direktor.«
Das kam fast jeden Tag vor. Ich wurde mit dem Stock verdroschen. Damals war das nicht nur erlaubt, sondern an den öffentlichen Schulen in England gang und gäbe. Ich verspürte nicht einmal Schmerzen, jedenfalls nicht so, dass es mir etwas ausgemacht hätte. Ich fühlte mich auch nicht erniedrigt. Die Bestrafung hatte keinerlei Auswirkung auf mich. Der Direktor wusste, dass ich nicht dumm war. Anfangs hatte er sogar noch Verständnis für mich – er hatte selbst sehr früh seinen Vater verloren –, doch seine Geduld währte nicht lange.
Haltung bewahren war die Devise. Die Bedürfnisse der Kameraden über die eigenen stellen.
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